Festbierleichen. Uwe Ittensohn

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Название Festbierleichen
Автор произведения Uwe Ittensohn
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267400



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      »Wieso nicht? Du kannst ihn doch nicht einfach irgendwo da draußen rumliegen lassen.«

      »Natürlich werde ich nach ihm sehen. Aber keine Polizei! Hörst du? Keine Polizei!«, flehte er.

      Karin schaute irritiert zu ihm auf. Sie konnte das nicht einordnen. Er, der sonst immer geradlinig auf ein Höchstmaß an Ordnung Wert legte, wollte das einfach so auf sich beruhen lassen? »Wieso?«, fragte sie ihn eindringlich. »Was hat das mit dieser Natascha auf sich?«

      »Nichts. Nichts.«

      Er löste sich von dem Karton und ging unschlüssig ein paar hektische Schritte durchs Wohnzimmer, das Gesicht in seinen Händen vergraben.

      »Ich … ich geh raus, nach ihm suchen«, stammelte er und schlüpfte durch die Haustür ins Freie. Er musste sich sammeln, darüber nachdenken, was er ihr sagen sollte.

      Karin schluchzte laut auf, als er die Tür hinter sich schloss. Was hatte das alles zu bedeuten? Was verschwieg er ihr? Er war schon die letzten Tage so seltsam gewesen. Erst das mit seinem kleinen Finger und nun das hier. Er hatte ihr erzählt, es sei beim Werkeln mit der Kreissäge bei einem Arbeitskollegen passiert. Dabei wusste sie nichts von jenem Kollegen, dem er angeblich bei der Holzdecke geholfen hatte. Als sie nach dessen Namen gefragt hatte, hatte er nur unwirsch abgewunken. Warum hatte er sich nicht, wie jeder andere vernünftige Mensch, im Krankenhaus behandeln und den Finger wieder annähen lassen? Das war nicht der Ernst, wie sie ihn kannte. Wo war seine übliche Pedanterie? Wo waren die Formulare für die Unfallmeldung und die Versicherung? Er würde doch so etwas nie einfach so auf sich beruhen lassen und ohne Weiteres zur Tagesordnung übergehen. Dann hatte er heute Morgen vorgegeben, dass er in der Brauerei zurzeit so viel zu tun hätte – und das mitten im Sommer. Zum Jahresanfang, wenn es darum ging, die Bilanz zu erstellen, war sie das von ihm gewohnt – aber jetzt? Samstags bis um 19.00 Uhr im Betrieb zu hocken, war alles andere als normal. Und was hatte das mit diesem Gruß von Natascha auf sich? Ging er etwa fremd, und es war die Rache eines gehörnten Ehemanns? Aber auch das passte nicht. Ernst war kein Lebemann, dem die Frauen hinterherliefen. Er war nicht so, wie es jetzt wirkte.

      Katermorgen

      Sonntag, 7. Juli 2019, 6.55 Uhr

      Berger war kaum in der Lage, am Steuer wach zu bleiben. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan. Trotz des Sonntags war der Verkehr auf der A6 zäh wie Honig. Schon seit einer Viertelstunde kroch er im Schneckentempo über die Autobahn von Schwetzingen in Richtung Mannheim zur Brauerei. Gestern Abend hatte er noch den Rumpf des Katers gesucht und ihn in dem Wäldchen, das die Siedlung vom Bahndamm trennte, gefunden.

      Alle vier Beine waren ihm wohl bei lebendigem Leibe dicht am Körper vielleicht mit einer Baumschere abgetrennt und danach als grausiges Bündel mit Geschenkband umwickelt worden. Berger hatte sich an Ort und Stelle übergeben, seinen Mageninhalt auf die Blutlache, die den Ort der Tat markierte, herausgewürgt. Natürlich war ihm in der Wohnung schon klar geworden, wessen Handschrift das war. Aber erst jetzt wurde ihm die exzessive Grausamkeit, mit der der Täter vorgegangen war, bewusst. Bis gestern hatte er noch die Hoffnung gehabt, es würde irgendwie gutgehen, der Russe könnte gefasst werden oder es sich anders überlegen. Aber nun war ihm klar, dass er alles tun musste, was der Mann von ihm verlangte, sonst …

      Er wagte es nicht, weiter zu denken, es sich auszumalen, was seiner Frau und Tochter alles widerfahren könnte. Der eiskalte Stachel der Angst, der in sein Innerstes vorgedrungen war, raubte ihm fast den Verstand.

      Er hatte die Reste des Katers mit bloßen Händen im Wald verscharrt. Karin durfte nichts davon erfahren. Es würde sie nur noch mehr anstacheln, die Polizei zu rufen. Den ganzen Abend hatte sie geweint, mehrfach hatte er sie vom Telefon weggezogen. Sie hatte nicht verstehen können, warum er sich dermaßen dagegen wehrte, die Polizei hinzuzuziehen. Seine Ausflüchte waren schwach und unlogisch gewesen. Zum Schluss hatte er sie nur noch angefleht. Hatte sich anfangs noch verwirrte Ungläubigkeit auf ihren Zügen gespiegelt, war es nun tiefe Verachtung. Ihre allmählich einsetzende Erkenntnis, dass er etwas vor ihr verbarg, schmerzte ihn. Seine Karin, die er selbst nach 21 Ehejahren noch liebte wie am ersten Tag, misstraute ihm nun. Und er war es, der das Band zwischen ihnen bis zum Zerreißen überdehnt hatte. Nun wurde ihm der blöde Ausrutscher mit dieser Natascha zum Verhängnis. Klar, die wenigen Besuche bei ihr waren aufregend gewesen, aber doch nur ein kleines Abenteuer und nichts im Vergleich zu der tiefen Zuneigung, die er für Karin empfand. Er hasste sich dafür, dass er seinerzeit schwach geworden war.

      Aber wie sollte er sie und ihre Tochter sonst schützen? Er musste dem Russen nachgeben.

      Der innere Konflikt lag ihm wie ein kalter Pflasterstein im Magen. Wie sollte er seine Familie vor der bösartigen Aggression dieses Mannes bewahren, und wie, um alles in der Welt, konnte er den Auftrag erfüllen?

      Die Brauerei wurde nachts bewacht. Man konnte nicht einfach hineinfahren und einen Tankwagen leerpumpen, ohne dass es auffiel. Er war am Ende, er fühlte sich, als säße er in einer riesigen Schraubzwinge fest, die sich Millimeter für Millimeter weiter schloss und ihn und seine Familie in ihren stählernen Backen zerquetschte.

      *

      »Den ganzen Tag vegetierst du nun schon auf dem Sofa rum. Komm, lass dich nicht so hängen. Das sind doch nur Kratzer«, sagte Irina an das jämmerliche menschliche Bündel gerichtet, das vor ihr, in eine Wolldecke gehüllt, auf dem Sofa lag.

      »Du hast gut reden. Es gibt keinen Knochen, der mir nicht höllisch wehtut, und die Hände werde ich wohl vier Wochen nicht bewegen können«, krächzte André heiser.

      »Ich weiß, Männer leiden intensiver als Frauen.«

      »Hm«, brummte er genervt, wickelte die Decke enger um sich und drehte sich von ihr weg.

      »Und ein Depri bist du wohl jetzt auch noch.«

      »Depri! Was würdest du sagen, wenn eine ganze Stadt über dich lacht?«

      André griff zu seinem Smartphone und las laut aus dem Online-Auftritt des Mannheimer Abendblattes vor:

      »Betrunken, unter Drogen oder einfach nur ein Rowdy? Die Polizei schweigt zu den Vorgängen am Wasserturm. Gestern gegen 13.00 Uhr lieferten sich zwei Männer auf Fahrrad beziehungsweise E-Scooter eine halsbrecherische Verfolgungsjagd, bei der beide Personen leicht verletzt wurden. Damit wurde die Diskussion um die E-Scooter in Mannheim wieder neu angefacht … Als der Rollerfahrer feststellte, dass er auf dem deutlich langsameren Elektro-Scooter das Nachsehen haben würde, nutzte er ihn kurzerhand als Wurfgeschoss und verletzte damit den flüchtenden Radfahrer. Angeblich war ein Streit der beiden um einen freien Tisch in einem Bistro unter den Arkaden die Ursache für die wilde Hatz, die jedem James-Bond-Film zur Ehre gereicht hätte.«

      Irina lachte laut auf. »Wow, der alte Mann wird kinoreif. André 007 im Auftrag seiner Majestät.«

      »War ich ja auch. Schließlich warst du es, die mir gesagt hat, dass ich ihn unbedingt festhalten muss, bis Frank kommt«, erwiderte André gespielt kleinlaut.

      »Festhalten war dein Auftrag. Und nicht: mit Roller bewerfen«, ergänzte sie lachend. »Und das Ganze vielleicht einen Tick diskreter.«

      »James Bond geht auch nie diskret vor, wenn er ganze Stadtteile in Trümmer legt.«

      »Da hast du wohl recht. Komm schon, James, deine Miss Moneypenny lädt dich als kleine Entschädigung zum Abendessen ein.«

      »Ich kann mir nicht mal alleine die Schuhe zubinden«, setzte sich André zur Wehr und hob die dick verpflasterten Hände.

      »Steh jetzt endlich auf, bevor ich es mir anders überlege. Ich hol dir deine Schuhe.«

      Als sie zurückkam, lachte sie schallend und hob sich einen schwarzen Lederschuh vors Gesicht. »Ich seh dich«, feixte sie und schaute von oben in den Schuh durch die halb abgerissene Sohle hindurch auf ihn. »Wow, du hast dich wirklich bis auf die Socken für mich ins Zeug gelegt. Oder ist das gut gegen Schweißfüße?«

      »Die waren fast neu«, brummte er missmutig.

      »Glaubt man gar nicht, so