Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

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Название Die Akte Hürtgenwald
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267240



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Mann setzte einen griesgrämigen Blick auf und winkte ab.

      »Hat er für Sie auch einen Namen?«, fragte Straubinger.

      »Mich nennt er Tschick. Keine Ahnung, was das heißt. Hört sich bescheuert an, oder?« Er gab dem Wirt ein Zeichen, woraufhin der zum Zapfhahn griff.

      »Tschick, so sagt man in Österreich zur Zigarette.« Straubinger lachte. »Vielleicht rauchen Sie zu viel für seinen Geschmack.«

      »Aha.« Teilnahmslos trank Tschick erneut einen Schluck. »Jetzt stellt er seine Nachforschungen auch schon bei den Ösis an.«

      Der Bierbaron machte zwei schwungvolle Bleistiftstriche auf Tschicks Deckel und stellte Straubinger ein frisches Kölsch hin.

      »Wie komme ich zu der Ehre?«, fragte Straubinger.

      »Bei uns wird jeder eingeladen«, antwortete Tschick ungerührt. »Beim ersten Mal.«

      »Prost!« Straubinger trank das Bier in einem Zug aus und sah durch das Fenster auf den Spielplatz. Die vier Dorf-Punks, die eben noch auf der Sitzbank rumlungerten, waren verschwunden. »Beim nächsten Mal bin ich dann dran«, sagte er zu Tschick.

      Als er ging, rief der Wirt ihm hinterher: »Kommen Sie wieder! Und empfehlen Sie uns weiter … in Bayern!«

      »Wenn ich mal wieder dort bin. Ich sag Ihnen, die kommen demnächst alle. Schön hier bei euch. Aber die Gläser könntet ihr ein bisschen größer machen.«

      *

      Bei den Bunkern

      Die schnurgerade Schneise war rechts und links von ebenso schnurgeraden Fichten gesäumt. Ein dicht gepflanzter, undurchdringlicher Wald. Nach etwas mehr als einem Kilometer näherte sich Straubinger einer Weggabelung auf einer kleinen Lichtung.

      Der Mann in dem weißen Gewand stand vor einer Blockhütte und stellte gerade eine Staffelei auf. Straubinger hielt seinen Wagen an und stieg aus.

      »Hallo!«

      Der Mann reagierte nicht.

      Straubinger ging ein paar Schritte näher. »Hallo, entschuldigen Sie, wir haben uns eben in dem Wirtshaus unten getroffen. Erinnern Sie sich?«

      Blitzschnell wendete der Mann den Kopf und starrte Straubinger mit riesigen Augen an. »Wir haben uns nicht getroffen«, schnippte er fast wütend, »wir sind uns begegnet. Das ist ein Unterschied. Und klar erinnere ich mich, was soll die Frage. Ich bin nicht blöd!«

      »Sie waren ja schnell wieder hier aus dem ›Petit Marron‹.«

      »Was wollen Sie?«, fragte er barsch.

      »Mich interessiert das Gedicht, das Sie eben aufgesagt haben.«

      »Niemand interessiert sich dafür.« Der Alte wirkte verwirrt.

      »Ich schon«, widersprach Straubinger. »Worum geht es in dem Gedicht?«

      Der Alte stierte Straubinger für einige Sekunden aus tiefen Augenhöhlen an, drehte sich weg und verschwand in der Hütte. Straubinger ging hinter ihm her. »Darf ich eintreten?«

      »Nein!« Der Alte baute sich vor ihm auf und stemmte sich in den Eingang.

      Straubinger wich zurück. »Sagen Sie mir, worum es bei dem Gedicht geht?«

      Langsam kam der Weißhaarige wieder aus der Hütte heraus. »Alte Verse zu den liederlichen Menschen von Gression. So wie sie damals waren, so sind sie heute.« Er warf den Kopf in den Nacken und reckte die Fäuste.

      »Den Herrgott wollten sie nicht kennen,

      Als er bot den Menschen Gnade.

      Gression muss niederbrennen

      An des Omerbachs Gestade.«

      »Sind Sie da nicht ein bisschen streng mit Ihren Nachbarn?«

      Dem unwirschen Blick des Alten folgte eine Tirade an Unfreundlichkeiten. »Meine Nachbarn? Dass ich nicht lache. Ha! Eine Saubande ist das! Nichts als Scharlatane! Taugenichtse! Und Frevlerinnen!«

      »Aber doch nicht alle, oder?«, fragte Straubinger.

      »Was glauben Sie, hä? Ich lebe hier seit 60 Jahren. Die Menschen sind schlecht! Sie betrügen, faseln unnötiges Zeug, belügen sich und wollen nur eines: Geld, Geld, Geld! Das war damals so und das ist heute so. Gression, dem Untergang geweiht!«, rief er aus voller Brust.

      »Ein großartiges Gedicht. Und Gression? Gibt es das noch?‹

      »Der Herrgott hat es untergehen lassen. Und genauso wird es allen hier ergehen, weil sie wieder dieselben Torheiten begehen!«, sagte er zornig, reckte beide Hände nach vorn, als wollte er etwas packen, und zog sie langsam zu sich hin.

      »Giebel stürzen, Häuser fallen,

      Bäume werden unterspült;

      Von der Woge mächt’gem Prallen

      Wird der Boden aufgewühlt.«

      Der alte Mann kochte. Er konnte sich kaum beruhigen, atmete hektisch und machte merkwürdige Bewegungen mit den Händen, wand sich und verkrampfte das Gesicht. Dann, von einer Sekunde auf die andere, setzte er eine strenge Miene auf. »Alle bekloppt«, brummte er und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn hin und her.

      Straubinger sah ihn lange an. »Haben Sie Angst?«

      »Angst?« Der Alte sah zu Boden. »Angst, nein, keine Angst. Vor wem? Vor diesem gottlosen Volk?« Heftig schüttelte er den Kopf. »Der Untergang ist nicht mehr weit. Und weißt du was, Bayer?«, sagte er voller Überzeugung. »Du bist Polizei, ich sehe es dir an. Und auch du glaubst es mir nicht. Niemand glaubt es!«

      Straubinger ging auf die Hütte zu und startete erneut den Versuch, einen Blick hineinzuwerfen. Der Alte stellte sich sofort vor ihn und blockierte ihm erneut den Zugang.

      »Sie wissen, dass Sie im Wald eigentlich nicht wohnen dürfen?«, sagte Straubinger.

      Der Alte folgte seinem Blick, ging noch näher an ihn ran, bückte sich und sah ihm mit seltsam verdrehtem Hals von unten in die Augen. »Meint er das ernst, Polizei?«

      Straubinger nickte. »Ja, ich meine das ernst.«

      Der Alte stolperte scheinbar und trat Straubinger voll auf den Fuß, ausgerechnet auf den Fuß, in dem ihm die Platten und Schrauben eingebaut worden waren.

      »Oh«, rief der Alte schwülstig. »Oh, entschuldigen Sie …«

      Straubinger war klar, dass dieses kleine Schauspiel von Gemeinheit getrieben war. Er setzte ein gleichgültiges Gesicht auf.

      Der Wolkenmaler stutzte und rüttelte an Straubingers Arm. »Hm? Tut ihm der Fuß nicht weh?«

      »Nein, tut mir nicht weh.«

      Der Alte nahm einen Stock, der neben der Tür zur Hütte stand, und klopfte zweimal auf Straubingers dünnen Turnschuh. »Nicht weh?«

      Straubinger schüttelte gelassen den Kopf. »Nein.«

      Der Wolkenmaler betrachtete ihn und seinen Fuß mit fragendem Blick. Dann holte er weit aus, ließ den trockenen Haselnussstock niedersausen, sodass es krachte, als hätte er ihn gegen einen Panzer geschlagen. Prüfend starrte er Straubinger ins Gesicht, der immer noch keine Miene verzog.

      »Eisenfuß«, murmelte der Alte. Skeptisch musterte er Straubinger von oben bis unten. »Du bist ein Mann mit Charakter.« Während er Straubinger verwirrt betrachtete, fasste er sich ans Kinn. »Komm, Eisenfuß!« Er stellte den Stock zur Seite und führte Straubinger in seine Hütte.

      Überall standen große und kleine bemalte und unbemalte Leinwände. Die Bilder zeigten den Himmel, manchmal war er blau mit Schönwetterwolken, manchmal grau mit bedrohlichen Wolkentürmen, dann war der Himmel in frühmorgendliches Grün getaucht oder in vormittägliches Gelbgrün, immer waren Wolken zu sehen, mal weiße, dann gräulich-lilafarbene oder rötlich leuchtende. Einige Bilder zeigten die watteähnlichen Wolken des Kraftwerks vor einem