Ohne Gnade. Helmut Ortner

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Название Ohne Gnade
Автор произведения Helmut Ortner
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783939816737



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werden die klassischen niederen Beweggründe der Rache oder Vergeltung angeführt – oder eine erhoffte Abschreckungswirkung, die allerdings noch keiner empirischen Untersuchung standhielt. Es gibt viele Statistiken zur Todesstrafe, sie beruhen auf Informationen von Menschenrechtsgruppen, Medienberichten und einigen wenigen offiziellen Zahlen. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlicht jährlich die Zahlen weltweiter Hinrichtungen. Doch sie dürften allesamt unvollständig sein, da sie sich nur auf die zur Kenntnis gelangten Fälle beziehen. Die tatsächlichen Zahlen liegen mit Sicherheit höher. Aktuelle Statistiken werden am Ende dieses Buches genannt. Die Entwicklung ist erschütternd: In den zurückliegenden Jahren wurden in der Volksrepublik China die meisten Todesurteile vollstreckt, gefolgt von Iran, Saudi-Arabien, dem Irak und Pakistan – sowie den USA.

      Vor allem die amerikanische Hinrichtungswirklichkeit ist für unsere europäische Rechtskultur irritierend. Ein Land, dessen Verfassung seinen Bürgern die Menschenrechte garantiert, ein Land, das sich gerne in der Vorbildrolle als intakte Demokratie sieht, das so selbstbewusst auf seine moralischen Werte verweist und das davon überzeugt ist, vom lieben Gott mit großem Wohlwollen betrachtet zu werden, dieses Amerika setzt als einzige westliche Demokratie noch immer auf die Todesstrafe.

      So hatten die acht Richter des Supreme Court Ende 2016 einmal mehr über die Rechtmäßigkeit gleich mehrerer drohender Hinrichtungen zu entscheiden, darunter auch die des 45-jährigen Ronald Smith im Staatsgefängnis Montana, der sich mit seinem letzten Einspruch an das Verfassungsgericht gewandt hatte. Doch mit einer 4:4-Entscheidung wurde dieser abgelehnt. Smith wurde noch in derselben Nacht getötet, nach einem 35-minütigen, schmerzhaften Todeskampf, wie Zeugen berichteten.

      Was in der letzten halben Stunde seines Lebens genau passierte, könnte nur Ronald Smith selbst sagen. Nur er könnte erzählen, was er dachte und fühlte, als das Gift in seinem Körper zu wirken begann, als das Beruhigungsmittel, das ihn einschläfern sollte, dies offenbar nicht tat. Vielleicht hatte er grauenvolle, brennende Schmerzen, vielleicht war er bei vollem Bewusstsein. Ronald Smith starb grausam – im Namen des Volkes.

      Wie zuvor Troy Davis.

RITUALE Die archaischen Strafen

       Katalog des Tötens – Macht, Ehre und Tod

      Beginnen wir vorne – ganz vorne. Mit einer ersten Reform. Es war der römische Kaiser Konstantin – genannt der Große –, der um das Jahr 320 nach Christus die Kreuzigung als Hinrichtungsritual abschaffte. Gerade hatte er sich dem bis dahin unterdrückten christlichen Glauben zugewandt, nun wollte er in frommer Ehrfurcht die durch den Kreuzestod des Religionsstifters geheiligte Hinrichtungsart nicht länger durch gemeine Verbrecher entweihen lassen. Es gibt kaum authentische Darstellungen von Kreuzigungen, keine detaillierten Beschreibungen, stattdessen viel Widersprüchliches. Bekannt ist, dass die Kreuzigung im gesamten Mittelmeerraum eine geläufige und häufig vollzogene Hinrichtungsart war, vorgesehen für nichtrömische Rebellen, Sklaven, Straßenräuber und ehrlose Gladiatoren. Erst später wurden auch römische Bürger ans Kreuz gehängt. Der schändliche Charakter der Strafe rührte von ihrer Besonderheit her: Der Hingerichtete durfte nach dem Tod nicht vom Kreuz genommen werden. Ein Begräbnis wurde ihm verweigert. Sein Leichnam blieb am Kreuz so lange hängen, bis er sich von selbst auflöste oder Vögel ihn schändeten. Ein Gekreuzigter wurde ständig bewacht, damit ihn seine Freunde oder Verwandten nicht vorzeitig vom Kreuz nehmen und beerdigen konnten.

      Die römische Richtstätte, nahe dem heutigen Sankt-Laurentius-Tor, war von Knochen und Skeletten übersät, ein entsetzlicher Gestank hing über dem Platz. Ein Ort des Schreckens: bestimmt für niedrigste Verbrecher, gemieden von jedem ehrbaren römischen Bürger.

      Während sich bei den sonstigen Todesstrafen trotz ritueller Abweichungen eine feste Vollzugsform herausbildete, blieb die Kreuzigung der Willkür der jeweiligen Henker überlassen. Es existierten kaum exakte Vorschriften, was bei einer Kreuzigung zu geschehen habe, wie der Delinquent zu behandeln sei, das Kreuz beschaffen sein müsse. Die Ursache mag darin zu finden sein, dass die Kreuzigung eine Sklavenstrafe war und die Gerichtsbarkeit damit bei seinem Besitzer lag. Dieser konnte mit ihm verfahren, wie er wollte: Er konnte ihn auspeitschen oder auch kreuzigen lassen. Niemandem hatte er darüber Rechenschaft abzulegen. Erst unter dem Cäsaren Claudius scheinen die Sklaven einen gewissen Schutz vor allzu großer Willkür genossen zu haben. Er ließ die Tötung eines Sklaven bestrafen, falls der Besitzer nicht einen ausreichenden Grund vorzuweisen hatte.

      Die eigentliche Kreuzigung wurde vom Henker der Stadt Rom, dem carnifex, und seinen Knechten vorgenommen. Ob sie den Delinquenten mit Weidenruten an ein Kreuz banden oder ihn annagelten, in jedem Fall geriet der Verurteilte in eine Haltung extremer Wehrlosigkeit, in der er nicht nur Wind und Wetter, sondern selbst kleinsten Tieren hilflos ausgeliefert war. Auch die obligatorische Entkleidung nahm ihm jeglichen Schutz. Reduziert auf das nackte, hilflose Wesen, wurde er der Gottheit als Opfer dargeboten.

      Die Kreuzigung war schon vor der römischen Zeit ein Menschenopfer – wahrscheinlich an die Gottheiten der Elemente, an den mächtigen Sonnengott oder an den Windgott. Der Missetäter, der durch seine Untat den Zorn der Götter geweckt und auf die ganze Gemeinschaft gelenkt hatte, musste aus dieser entfernt werden. Schon bei den Assyrern und Babyloniern war die Kreuzesstrafe bekannt, ebenso bei den Persern, Griechen und Karthagern. Auch wenn es unterschiedliche Vorläufer der Kreuzigung gab – etwa das Fesseln an einen Felsen oder Pfahl oder das Hängen an einem Baum –, das Strafziel, die Auslieferung des Delinquenten an die göttliche Macht der Elemente, war allen gemeinsam. Und noch eines setzte sich allerorten durch: Das strenge Tabu, das auf jeder Hinrichtung lag, verbot es, das Land durch verstreut stehende Pfähle und Hinrichtungsbäume zu verunreinigen. Schon früh bildete sich deshalb die Gepflogenheit heraus, einen bestimmten Ort für die Hinrichtungen zu wählen; einen öden Ort, an dem Wind und Wetter ungehindert toben konnten. Übrigens bezeichneten die Griechen das Kreuz immer als stauros, was nichts anderes als Pfahl bedeutet, und auch bei den Römern hieß es arbor infelix, der „Unglücksbaum“, was beides deutlich auf seine Herkunft verweist.

      Im Orient wurde der Pfahl dazu verwendet, den Delinquenten aufzuspießen. „Auf das Kreuz setzen“ nannten antike Autoren diese bestialische Hinrichtungsart, bei der dem Verurteilten der zugespitzte Pfahl durch den Anus in den Leib getrieben wurde. Danach richtete man den Pfahl auf und steckte ihn in die Erde. Die unglaubliche Quälerei fand erst ein Ende, wenn der Unglückliche von den natürlichen Elementen erlöst wurde. Warum aber ein Kreuz – woher kommt es? Im alten Ägypten galt es als Symbol des ewigen Lebens, in Herculaneum, dem von der Lava des Vesuvs im Jahre 79 nach Christus verschütteten Ort, wurde es schon früh als Wandzeichen entdeckt. Ein heidnisches Symbol? Erst das Christentum aber erfüllte es mit religiösem Gehalt: ein einfaches, sinnfälliges Zeichen, das Aufbruch und Nähe zu Gott symbolisiert. So ist eines der fürchterlichsten Hinrichtungsinstrumente zum Symbol von Liebe und Vergebung geworden.

      Kreuz und Galgen stammen gewissermaßen von den gleichen Wurzeln. Schon im Altertum war das Hängen als Todesstrafe weit verbreitet, denn Bäume gab es überall. Hängen galt als ehrlos und schändlich, weshalb es im Mittelalter zur meistgebrauchten Todesstrafe für Diebe wurde. Wie häufig diese Strafe ausgesprochen und vollstreckt wurde, mag ein Beispiel erhellen: Als im Jahre 1471 in Augsburg die Gruben unter dem Galgen geöffnet wurden, fand man 250 Schädel von Gehenkten, während gleichzeitig noch 32 Diebe am Galgen hingen.

      Zum Hängen gebrauchte man ein Hanfseil, mitunter eine Kette. An den Galgen wurden zwei Leitern angelegt, der Henker befestigte die Schlinge am Galgenhaken, dann stiegen er und der Verurteilte die Leitern hinauf. Oben angekommen, legte der Henker dem Verurteilten die Schlinge um den Hals, stieg herab und stieß die Leiter, auf welcher der Todeskandidat stand, um, so dass dieser frei in der Luft hing. Die Schlinge zog sich durch die Körperschwere zusammen, verschloss die Luftröhre und Blutgefäße, wodurch der Tod eintrat. Noch qualvoller war das Hochziehen am Galgen. Dem am Boden stehenden Verurteilten wurde die Schlinge eines längeren Seils um den Hals gelegt, das Seil über den Galgen geworfen oder durch den Galgenhaken geführt. Dann wurde