Maltes Arm lag auf der Bettdecke. Erschreckend dünn und fast so bleich wie der weiße Stoff.
»Keine Ahnung«, gestand Arndt heiser. »Gestern Abend gab es Fisch.«
Fee wiegte den Kopf.
»Dann hätte bereits in der Nacht eine Reaktion eintreten müssen. Wie gesagt, ich bin optimistisch, dass wir den Auslöser finden werden. Die Untersuchungen laufen.«
»Mein Sohn befürchtet, er habe Morbus Crohn. Wie seine Mutter. Leider hat er mir das nicht selbst gesagt.«
»Morbus Crohn?« Der Pferdeschwanz auf Fees Rücken tanzte hin und her. »Das ist es mit Sicherheit nicht.« Sie wusste um die Tücken dieser Erkrankung und war froh, Entwarnung geben zu können. »Zumal Morbus Crohn nur zu etwa 20 Prozent erblich bedingt ist.«
Arndt fuhr sich mit der Hand über das Kinn.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Malte nicht zu mir gekommen ist. Ich dachte, dass wir keine Geheimnisse voreinander hätten. Seit uns seine Mutter verlassen hat, haben wir immer alles geteilt.«
Felicitas war eine aufmerksame Zuhörerin. Auch ohne Hintergrundinformationen verstand sie die Botschaft zwischen den Zeilen.
»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Erwachsenwerden ist für niemanden einfach. Nicht für die Kinder. Und auch nicht für die Eltern.«
Arndt drehte sich zu seiner Kollegin um.
»Sie sind Mutter?«
Ein Lächeln spielte um Fees Lippen.
»Fünf an der Zahl. Eines davon ist Maltes behandelnder Arzt. Dr. Danny Norden.«
Arndt Stein spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
»Ich fürchte, ich habe Ihren Sohn nicht gerade fair behandelt.« Er räusperte sich. »Dabei wollte er Malte nur helfen.«
Fee kontrollierte die Werte des Geräteturms und notierte sie im Krankenblatt. Erst dann wandte sie sich wieder an den Kollegen.
»Das sollten Sie ihm besser selbst sagen, Herr Dr. Stein. Danny ist erwachsen.« Sie zwinkerte ihm zu und legte kurz die Hand auf seine Schulter, ehe sie aus dem Zimmer ging und Vater und Sohn sich selbst überließ.
*
Die Häuser warfen lange Schatten, als Danny Norden vor dem Tanzkursus noch schnell nach Hause kam. In der Wohnung sah es aus, als wäre eine Horde Einbrecher über das Hab und Gut der Familie Norden hergefallen. Schränke standen offen. Überall lagen Kleider, Schuhe und Jacken herum. In der Küche war jeder Quadratzentimeter der Arbeitsplatte bedeckt mit Geschirr, Besteck, Schüsseln, Töpfen und Pfannen in allen erdenklichen Farben und Formen. Sie alle warteten darauf, in die bereitstehenden Umzugskartons eingepackt zu werden.
Der Einzige, der sich in diesem Durcheinander pudelwohl fühlte, war Fynn. Selbstvergessen schob er Spielzeugautos um die Kartonecken und machte Motorengeräusche dazu.
Sein Vater dagegen schämte sich fast für sein Glück, dieses Chaos gleich wieder verlassen zu können.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte Tatjana ihrem Mann auf den Kopf zu. »Du bist froh, dass du gleich wieder gehen kannst.«
»Ab morgen stehe ich dir wieder voll und ganz zur Verfügung.« Danny küsste seine Frau. »Am Wochenende kommt die Umzugsfirma und nimmt den Rest mit. Dann sind wir zumindest diese Baustelle los.«
Tatjana folgte Danny ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Sie sah ihm dabei zu, wie er sich umzog.
»Ehrlich gesagt freue ich mich gar nicht mehr auf den Umzug.«
Danny knöpfte das Hemd zu.
»Mach dir nicht so viele Sorgen, Jana. Jetzt haben wir so viele Hürden überwunden, um unser Wolkenkuckucksheim zu bekommen. Da werden wir doch auf den letzten Metern nicht schlapp machen.« Er steckte das Hemd in die schwarze Hose und betrachtete den fremden Mann in der verspiegelten Schranktür, zog hier den Kragen zurecht und zupfte dort an der Hose.
»Trotzdem mache ich mir Gedanken. Vielleicht unterschätzen wir unsere Nachbarn. Zumindest Evelyn scheint keine Kosten und Mühen zu scheuen, um uns zu vergraulen.«
Danny setzte sich neben seine Frau auf das Bett. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich.
»Was ist denn? So zögerlich kenne ich meine mutige Kriegerin gar nicht.«
Tatjanas Augenbrauen zogen sich zusammen wie zwei Gewitterwolken.
»Wenn es nur um mich ginge, hätte Evelyn nichts zu lachen.« Sie seufzte. »Fynn ist das Lindenblatt auf meiner Schulter. Er macht mich verletzlich. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihm etwas zustieße.«
»Du denkst an den Pool?«
»Natürlich. Wasser ist immer eine Gefahr für kleine Kinder. Zumal ich nicht wie eine dieser Helikoptermütter ständig über ihm kreisen will. Er soll eine unbeschwerte Kindheit haben und sich frei entfalten …« Sie hielt inne und funkelte ihren Mann an. »Was gibt es da zu lachen?«
»Was bitte ist denn eine Helikoptermutter?«
»So werden Mütter genannt, die immer in der Nähe ihrer Kinder schweben und sie nie aus dem Augen lassen. Egal, ob das Kind sie braucht oder nicht. So eine Kindheit hatte ich nicht. Und so etwas will ich unserem Sohn auch nicht zumuten. Wofür haben wir denn ein Haus mit einem großen Garten gekauft?«
Danny warf einen verstohlenen Blick auf die Armbanduhr.
»Auch andere Familien mit Kindern wohnen in der Nähe von Wasser. Manche haben sogar einen Pool im eigenen Garten«, gab er zu bedenken. »Sieh es positiv. Auf diese Weise lernt Fynn frühzeitig, mit so einer Gefahr umzugehen.« Er beugte sich über Tatjana und küsste sie zum Abschied. »Ich muss jetzt leider los.«
»Warum habe ich das Gefühl, dass du meine Sorgen nicht ernst nimmst?«, fragte sie.
Antwort bekam sie keine mehr. Danny stand schon im Flur und wurde von seinem Sohn in eine Diskussion darüber verwickelt, warum er jetzt überhaupt keine Zeit hatte, das blaue Auto über den Flur zu schieben.
*
Auch Felicitas Norden rüstete sich für den Aufbruch. Anders als ihr ältester Sohn Danny wollte sie direkt von der Arbeit in die Tanzschule fahren. Der Computer war heruntergefahren, Drucker und Schreibtischlampe ausgeschaltet. Das Handyklingeln durchkreuzte ihre Pläne. Unbekannte Nummer. Einen Moment lang überlegte Fee, ob sie das Gespräch annehmen sollte.
»Norden«, meldete sie sich eine Spur ungeduldig.
»Stein hier. Bitte entschuldigen Sie die späte Störung.« Arndt Steins Stimme klang, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich.
»Herr Dr. Stein, was kann ich für Sie tun?« Den Apparat am Ohr, schulterte Felicitas ihre Tasche und nahm die Jacke vom Garderobenhaken.
»Ich habe die Tüte einer Bäckerei in Maltes Zimmer gefunden. Zwischendurch ist er total unvernünftig und stopft sich mit süßen Teilchen voll.« Die Tüte raschelte im Hintergrund. »Vielleicht sind sie die Ursache für den allergischen Schock.«
»Das ist nicht ungewöhnlich für Jungs in seinem Alter«, erwiderte Fee. Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren. »Einer meiner Söhne hat in der Pubertät regelmäßig ganze Kuchenvorräte vernichtet, wenn ihn keiner daran gehindert hat.« Sie löschte das Deckenlicht und zog die Bürotür hinter sich zu. Ihre Kopfarbeit war nicht ohne Ergebnis geblieben. »Was isst Malte denn besonders gern?«
»Süßes Gebäck in allen Variationen. Und die aus der Bäckerei ›Schöne Aussichten‹ besonders gern. Da darf es auch mal ein Amerikaner mehr sein.«
Fee konnte es Malte nicht verdenken. Die Brot- und Backwaren ihrer Schwiegertochter Tatjana waren über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Arndt Steins Sohn schienen sie allerdings zum Verhängnis geworden zu sein.
»Das klingt danach, als ob Malte eine Glutenunverträglichkeit