Alle Farben weiß. Christa Ludwig

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Название Alle Farben weiß
Автор произведения Christa Ludwig
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544200



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gleiten ließ, immer im Uhrzeigersinn, als wollte er sie aufziehen, und so wirkte es auch. Dabei berührte er sie nicht, seine Hände blieben in einer Ferne, die sie als kaum erträgliche Nähe empfand, niemals durfte sie das Kettchen ablegen. Sie aber begann, seine Haare zu lieben. Ihre Fingerspitzen ertasteten seine kurzen Stoppeln als deutlich gebogen, das hatte sie nicht gewusst; aber sehr wohl wissend, dass Niklas jetzt nicht Rotwein trinkend in der Küche saß, versank sie in dem Gefühl, dass sie nur warten müsste, lange genug warten müsste, bis die angedeuteten Kringel in ihren Fingern wachsen würden, Stoppeln zu Locken, und dann würde sie Niklas’ Kopf in den Händen halten, jetzt, genau jetzt.

      Sie musste nicht so lange warten, ein oder zwei Haarschnitte, eher Rasuren über Stefans dunklen Schopf, und sie zitterte unter dem Mann, den sie liebte. Es war Wirklichkeit und kein Traum, es war Tatsache und keine Verwechslung, es war ungültig, denn Niklas war betrunken. Er hatte den Alkohol aus allen Gläsern, Bierkrug bis Weinglas, mehr eingeatmet als geschluckt, weil Irene nicht zurückgekommen war, und Leon hatte doch gesagt: «Wartet mal bis zum Seminarfest, da sitzt die am Tresen, hundert pro, und garantiert will sie wieder einziehen!» Aber sie kam nicht.

      Niklas entschuldigte sich eine Woche lang täglich bei Selina für das, was er «den peinlichen Ausrutscher, kommt nie wieder vor» nannte, bis sie es wirklich nicht mehr schaffte, dieses Ereignis goldverbrämt in ihr Regal der Seligkeiten zu stellen. Da schon erkannte sie, dass sie würde gehen müssen, und als sie zwei Monate später merkte, dass sie schwanger war, stand ihr Entschluss. Von den vier Möglichkeiten, die ihr nun blieben, verwarf sie drei, eine – Stefan in die Verantwortung zwingen – mit leichtem Schulterzucken, die beiden anderen nach langem Kampf: Informationen über Abtreibung, Gespräche mit anderen Frauen, die dies hinter sich hatten, machten ihr diese Entscheidung unmöglich. Aber der Gedanke an ein Leben mit Niklas wehte eine Weile süßlich durch ihre Tagträume, während ihr immer bewusst war, dass es die Süße der Verwesung war, einer verfallenden Lüge, die sich auf immer zersetzen würde, aber niemals sterben dürfte, sie liebte Niklas nicht verzweifelt genug, um dies sich selbst, und zu sehr, um es ihm anzutun.

      Es war Stefans Kind, sie durfte nicht daran zweifeln. Das Kondom war geplatzt. Er hatte es gemerkt, als er es abzog, und mit einem leisen Fluch auf den Boden geklatscht.

      «Hast du die Pille danach?»

      «Nein.»

      «Geh in die Apotheke und hol welche.»

      Sie nickte.

      «Scheiße, es ist Samstag!», sagte er. «Muss wohl schnell gehen, scheiße, Irene hätte eine gehabt. Weißt du, welche Apotheke aufhat?»

      Er tippte hektisch auf seinem Smartphone herum.

      «Mach dir keinen Kopf», sagte sie, «da passiert nichts, ist nicht der richtige Zeitpunkt.»

      «Sicher?»

      «Ziemlich.»

      «Das ist deine Entscheidung.»

      Er griff nach seinen Kleidern und lief nackt aus ihrem Zimmer.

      Sie zog sich langsam an. So ganz stimmte das nicht mit dem richtigen, dem unrichtigen Zeitpunkt. Sie ging zum Fenster, sie rechnete, aber die Mathematik versagt bei Gleichungen mit zu vielen Unbekannten, x=Eisprung, y auch, davon hing alles ab, nach dem Eisprung ist es auch für die Pille danach zu spät, das wusste sie aus ihrer Zeit mit Marcus. Sie blickte hinunter auf die Straße. Wie immer waren mehr Radfahrer als Autos zu sehen. Irgendwie beruhigte sie das. Sie horchte in ihren Körper, der sagte ihr nichts.

      Ich muss schnell sein, dachte sie.

      Aber sie war nicht schnell. Als doch ein Auto durch die Straße fuhr, riss es mit seinem Tempo eine Angst quer durch ihren Bauch, ihr Blick klammerte sich an einen Radfahrer, kam zur Ruhe und ließ Zeit vergehen, die letzte Zeit, in der sie hätte handeln können. Und das Einzige, was sie dann tat, war Aufräumen, ihre Kleider, ihr Zimmer, die Decken, alles um das geplatzte Kondom herum, das noch immer auf dem Boden lag und da nicht liegen bleiben konnte. Schließlich nahm sie es mit ein paar Tempotüchern auf, trug es ins Bad, wollte es in den kleinen Abfalleimer dort werfen, da war schon eins und sie zuckte zurück.

      Der Eimer ist voll, dachte sie, da passt nichts mehr rein, auf keinen Fall dies, das geht nicht, gar nicht, so ein Quatsch, wirf es endlich weg, weg, weg!

      Sie wusch es gründlich, trocknete es ab, trug es zurück, wickelte es in ein Handtuch und schob das unten in ihren Schrank. Dann rannte sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung, die Treppe hinunter, riss ihr Rad aus dem Ständer, fuhr zur nächsten Apotheke, schnell, nun war sie schnell.

      Von diesem Tag an ging Stefan ihr aus dem Weg, er mied alle Gelegenheiten, mit ihr allein zu sein, und kam nie wieder in ihr Zimmer. Sie vermisste ihn, sie hatte sich an ihn gewöhnt, und mehrmals erwischte sie sich dabei, dass sie das Kettchen um ihr Fesselgelenk drehte, Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz und ein wärmeres Streifen von Bernstein im Refrain, und immer im Uhrzeigersinn, rund und rundherum. Dann fehlte er ihr schmerzlich, doch ihre Zeit hier war abgelaufen, ihre Uhr drehte sich gegen den Sinn.

      Eineinhalb Monate später verließ sie die WG. Sie meldete sich in Andrés Sprechstunde an, bat um die versprochenen Gutachten, behauptete, sie wolle sich eine Auszeit nehmen und entscheiden, ob sie ins Theoretische – Kunstgeschichte – oder ins Praktische – Restauration – gehen wolle. André war äußerst verständnisvoll, wirkte geradezu erleichtert. «Ich hab immer mitgelitten, wenn du dich so gequält hast!», versicherte er, und sie glaubte ihm.

      Ihr Auszug aus der WG war weniger spektakulär als Irenes, denn alles schien klar und offen.

      «Du weißt doch», sie grinste Stefan an, «Grete Siebenschein, letztlich hat die’s auch gesteckt.»

      Sie versprachen, Kontakt zu halten, «Du bleibst ja in unserer WhatsApp-Gruppe!» «Lieber nicht, ich brauch Abstand.»

      «Schick uns deine Adresse», «Klar, aber meine E-Mail bleibt», und Niklas murmelte sein «tschuldigung, du weißt schon …», sie nickte und ging, und keiner wusste, dass sie schwanger war.

      minus eins

      Augen

      Ihre liberalen Eltern hatten kein Problem mit der Situation.

      «Bloß nicht abtreiben», wiederholte ihre Mutter mantraähnlich, «das macht dir das Leben kaputt, das wirst du nie wieder los.»

      Und als Selina fragte: «Hast du …», wandte sie sich wortlos ab.

      Allerdings hätten ihre Eltern schon gern gewusst, wer der Vater war, aber Selina schwieg.

      Unten in ihrem Schrank, eingewickelt in dasselbe Handtuch, lag noch immer das geplatzte Kondom. Sie konnte es nicht wegwerfen, nicht mit dem Kind in ihrem Bauch, sie wollte es eingraben, nicht begraben, einpflanzen, am liebsten in einem Blumenbeet, aber nicht in dem kleinen Garten ihrer Eltern, zu groß war die Gefahr, dass ihre Mutter es irgendwann zwischen bunten Primeln wieder ausgrub. Also blieb es im Schrank, ihre einzige Erinnerung an Stefan, ihr Liebesbrief. Es war ihre einzige Erinnerung an die Zeit ihres Kunststudiums, und sie verband es mehr mit Niklas als mit Stefan.

      Sie kaufte ein neues Smartphone, war damit über Handy von den früheren Studienkollegen nicht mehr zu erreichen, nur die E-Mail-Adresse behielt sie. Zu ihrem Geburtstag hatte sie zwei Glückwünsche bekommen, einen von Laura mit Gruß von Leon, einen von Niklas.

      Nach einer ereignislosen Schwangerschaft gebar sie ihren Sohn und nannte ihn Silas, ein Anagramm aus Selina und Niklas mit dem ‹l› als Symmetrieachse.

      Das darf man, dachte sie, das ist nicht übergriffig, und er erfährt es ja nie.

      Sobald Silas alt genug für einen Kitaplatz war, verließ sie ihre Eltern und ihre Heimatstadt. Sie hatte sich entschieden, sie ging nach Süddeutschland, um an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in S. «Konservierung und Restaurierung von Gemälden» zu studieren. Die Entscheidung war ihr leichtgefallen, sie musste etwas mit ihren Händen tun, und das Gutachten, das André ihr für diesen Weg geschrieben hatte, gefiel ihr: