Vom Himmel in die Hölle. Christian Wilhelm Huber

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Название Vom Himmel in die Hölle
Автор произведения Christian Wilhelm Huber
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783475543661



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noch schlimmer, hinter den feindlichen Linien. In einem fliegenden Sarg.

      Da sitzt in Mergelstetten bei Heidenheim die blonde Linda am Ufer des kleinen, romantischen Flüsschens Brenz. Sie hat ein weißes ärmelloses Sommerkleid an, ist braungebrannt. Sie ist zwanzig und hat ihr ganzes Leben noch vor sich. Ihre langen blonden Haare hat sie sich hinter die Ohren gestreift, nur eine Tolle fällt ihr ins Gesicht. Mit ihrem strahlenden Lächeln, das eine weiße Zahnreihe freigibt, zieht sie die anderen um sie herum in ihren Bann. Mit ihren hohen Wangenknochen, dem kantigen und dennoch schön geschnittenen Gesicht und ihrer schlanken, aber weiblichen Taille könnte sie jeden hier in Mergelstetten haben. Aber sie will nur diesen einen, diesen verrückten Feldwebel der Luftwaffe, der nachts durch die Gegend fliegt und der seinen Kameraden in der Do 217 mit seiner Kanone, wie er sein MG nennt, den Rücken freihält. Und dann ist da noch Riele, das ganze Glück von Gerhard Ehlert, dem strengen Flugzeugführer mit seiner fein herausgeputzten Uniform.

      Riele hält genau in dieser Minute, in der die Männer im Fernaufklärer über Sarny abdrehen, sein Bild in Händen. Die Schirmmütze macht ihn größer, als er ist, denkt sie. Er ist schlank und rank, und seine Uniform hat keine Schnörkel. Für besonders lässige Accessoires wie Tücher oder Spangen, wie sie Piloten gerne tragen, hat ihr Gerhard keinen Sinn. Das passt nicht zur Dienstvorschrift, also lässt er es weg.

      Und dann ist da noch die Mutter. Williges Mutter. Sie hat ihren Mann schon im Frankreichfeldzug verloren. Er war einer der ersten Gefallenen, hat »für Führer, Volk und Vaterland« sein Leben gelassen. Diese Worte aus der Todesnachricht gehen ihr nicht mehr aus dem Sinn, brennen sich ein wie die klar gespielten, einzelnen Töne einer Fuge. Todesfuge! Gerade dann, wenn sie an ihren jüngsten Sohn denkt, den Karl-Heinz, der bei der Luftwaffe nachts über Russland fliegt, hört sie die Fuge klar. Gut, dass sie nicht weiß, wie ihr Mann wirklich gestorben ist, dort an der Marne. Es war ein Granatsplitter. Als ihn der Sanitäter fand, dachte er erst, die Franzosen würden mit Tomaten schießen. Überall war Rot mit vielen kleinen gelben Punkten. Der Splitter hatte den Schädel zerfetzt. Williges Mutter würde nach diesem Verlust den Tod eines ihrer drei Söhne nicht ertragen, schon gar nicht den ihres Jüngsten, der vom ersten Tag an der Mutter so sehr zugeneigt war – mehr als je dem Vater.

      Höhe 200 Meter. Alle Instrumente funktionieren. Der Bleistift tanzt in der Kuppel. Die Motoren brummen gleichmäßig und ruhig. »Gerade, Rechtskurve. Gerade. Da vorne noch mal Rechtskurve. Achtung. Gerade!« Schlotter liest die Karte, gibt die Richtung vor, Ehlert fliegt und denkt an Riele.

      »Machen wir uns noch mal den Spaß, Herr Leutnant?«, fragt Burr durch den Bordfunk. »Die Russenweiber flitzen so schön.«

      Doch Ehlert hat jetzt keinen Sinn mehr für Späße. Er will nach Hause. Gut fünf Stunden in der Luft zu kutschieren, zehrt an den Kräften. Als Pilot hat er die anstrengendste Aufgabe von allen Vieren. Auf den Navigator hören, konzentrieren, Instrumente im Blick behalten, den Vogel fliegen, die Mannschaft befehligen. Und er hat die Verantwortung, die ihm verbietet, irgendetwas in diesem verdammten Krieg nur so aus Spaß zu unternehmen. Über diese Regel setzt er sich so gut wie nie hinweg. Heute hat er sich schon einmal hinreißen lassen und sich sofort über sich selbst geärgert. Ein zweites Mal wird ihm das auf diesem Flug nicht passieren, hat er sich gleich nach seinem Flügelwackler über der Frauen-Flak geschworen. Ehlert will heim, nur noch heim. Heim auf den staubigen Feldflugplatz bei Baranowitschi, den Film zur Auswertestelle bringen, sich aufs Ohr hauen und bis morgen, bis übermorgen, bis in tausend Tage schlafen, einfach nur schlafen.

      »Wir fliegen kürzeste Strecke. Zweimal grün, wenn wir über der Hauptkampflinie sind, verstanden, Burr?«

      »Jawoll, Herr Leutnant, zweimal grün«, gibt der Bordschütze zurück. Er bedient die fest eingebaute Signalpistole unten am Rumpf der Maschine. Zwei grüne Leuchtkugeln soll er über der Front beim Eintritt in den eigenen Luftraum abfeuern. Das ist die Kennung, damit die Infanterie unten weiß, dass es ein eigenes Flugzeug ist, das über sie hinwegschwebt.

      Noch zehn Minuten, denkt Burr, dann haben wir den Mist hier wieder hinter uns. Gleich geschafft. Und alles ruhig. Zu ruhig. Burr hört die Stimme von Schlotter, der nach wie vor eine Richtungsangabe nach der anderen ausspuckt. Irgendetwas scheint Schlotter zu beunruhigen. Er zögert manchmal eine Zehntelsekunde, räuspert sich. Verstummt für ein paar Sekunden. Das ist man von ihm gar nicht gewohnt.

      »Schlotter«, schreit Ehlert, »ich brauch die Richtung, verdammt! Zusammenreißen, Mensch!«

      Alle drei merken jetzt, dass mit dem Oberfeld etwas nicht stimmt. Williges, dem Professor, tanzen kleine Schweißperlen der Angst auf der Stirne, im gleichen Takt, wie unten der Bleistift auf der Glaskanzel.

      »360 Grad, Herr Leutnant«, stößt Schlotter hervor. »Verdammter Mist! Hab die Orientierung verloren, Herr Leutnant.«

      360 Grad, das heißt: Der Pilot soll kreisen, so lange, bis der Beobachter den Kurs wieder hat. Kreisen, das bedeutet nichts Gutes. Ein Flugzeug ist dann am wenigsten in Gefahr, erkannt und heruntergeholt zu werden, wenn es rasch Kilometer zurücklegt und in Bewegung ist. Kreisen ist Stillstand. Unten sausen die Lichterketten der Lkw-Kolonnen vorbei. Es wird nicht lange dauern, dann wird man auf das Brummen des deutschen Fliegers in der Luft aufmerksam werden. Und höher ziehen nützt auch nichts, dann verliert Schlotter ganz die Orientierung.

      Es dauert eine, zwei Minuten, eine ganze Ewigkeit, in der Schlotter verzweifelt und immer hektischer zwischen seiner Karte und dem Erdboden hin- und herblickt. Verdammt, denkt er sich. Seine Augen schmerzen. Das ständige Hin und Her zwischen Licht unten und Dunkelheit oben strengt die Pupillen zu sehr an. Verdammt, hier muss doch der See kommen. Nichts, wieder nichts. Wald, kein See.

      »Ich schlag noch mal einen Haken. Oder sagen wir besser, ein Häkchen«, sagt Ehlert mit ruhiger Stimme. Es nützt nichts, wenn er jetzt auch noch nervös wird. »Vielleicht treffen wir auf etwas Bekanntes.«

      Und tatsächlich, da! Da vorne ist die Bahnlinie, die zurück nach Baranowitschi führt. Ist sie es wirklich? Ja, sie erahnen die Waldlichtung und die leichte Hügelkette. Dort muss auch ganz in der Nähe die Frauen-Flak sein. Deren Geschütze wollte Ehlert eigentlich umfliegen. Na gut, denkt er sich, bevor Schlotter nochmals die Orientierung verliert, bleiben wir lieber drauf. Die da unten werden ohnehin gerade wieder pennen.

      Doch damit liegt der Flugzeugführer diesmal schief. Längst hat die russische Batteriechefin von ihrer Infanterie gemeldet bekommen, dass ein großer schwarzer Vogel in der Nähe ihrer Stellung herumkurvt. Es muss der Deutsche sein, der sich ein paar Stunden zuvor über sie lustig gemacht hatte. Jetzt werden sie sich mal ein bisschen über ihn amüsieren, denken die Rotarmistinnen unten, die feuerbereit an ihren Geschützen hängen und auf einen Befehl warten. Und Ehlert weiß noch etwas Wichtiges, etwas Tödliches nicht. In wenigen Sekunden wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen. Zu spät registriert er, dass sie diesmal nicht im direkten Überflug die Flakstellung in Ost-West-Richtung passieren, sondern quer zur Stellung über den ganzen Flak-Gürtel der Russen fliegen. Als sie die ersten weißen Explosionswölkchen am Nachthimmel um sich herum erkennen und die Maschine das erste Mal von einer heftigen Druckwelle erfasst wird, sind sie noch kilometerweit vor der Frauen-Flak. Ehlert ahnt, dass hier gleich die Hölle losbrechen wird. Er denkt an Riele und an Zuhause. Der Bleistift in der Glaskuppel macht wilde Sprünge.

      II. Asche

      Ehlerts Flugzeug wird gleich in Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen. Seltsamerweise denkt er gerade an Asche – an die Asche, auf der sein Heimatdorf Meiersberg gegründet ist, nachdem jahrhundertelang in Glashütten Holz verfeuert worden war. Dort würde er jetzt gern sein. Vier Jahre – so lange liegt sein letzter Besuch schon zurück. Er denkt an den Bruder, seinen Spielkameraden der jüngsten Jahre, an den strengen, aber liebenswerten Vater, der Militärmusiker war, und an die Mutter, die ihn und alle, die es hören wollten, immer vor den Nazis gewarnt hatte und der man dafür in ihrem Heimatort aus dem Wege ging. Ehlert denkt daran, wie es war, in jenem letzten Sommerurlaub in Meiersberg vor seinem Eintritt in die Wehrmacht.

      Damals fuhr er nach Ferdinandshof, den nächsten größeren Ort bei Meiersberg, um Ahnenforschung zu betreiben. Den eigenen Vorfahren nachzustöbern, war im dunklen Reich eines Heinrich Himmler arg in Mode. Der Reichsführer-SS