Das Ministerium für Sprichwörter. Otto Grünmandl

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Название Das Ministerium für Sprichwörter
Автор произведения Otto Grünmandl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939321



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glaube, es ist besser, ich bleibe stehen, Herr Präsident.“

      Ferdinand hatte das leise und mit aller Bescheidenheit gesagt, der er sich vor Präsident Schmidbruch zu befleißen verpflichtet glaubte, aber ein kaum merkbares, undeutbares Lächeln in seinem Gesicht ließ Schmidbruch jeden weiteren Versuch aufgeben, ihn doch zum Niedersetzen zu bewegen; er hatte das bestimmte Gefühl, daß das vollkommen aussichtslos wäre.

      „Nun gut, bleiben Sie eben stehen.“

      „Sehr wohl, Herr Präsident. Ich bleibe stehen.“

      „Reden wir von etwas anderem.“

      „Wie Euer Gnaden meinen.“

      „Ich bin nicht ‚Eurer Gnaden‘ ich bin …“

      „Euer Gnaden ist nicht Präsident, Herr Präsident.“

      „Sie sollen nicht Präsident zu mir sagen.“

      „Ich bleibe stehen.“

      „Ferdinand! Ferdinand, Ferdinand!“

      „Ja? Ich stehe zu Ihren Diensten.“

      „Ferdinand!“

      „Ja?!“

      „Ferdinand, was halten Sie davon?“

      „Wovon?“

      „Davon!“ Schmidbruch zeigte auf die leeren Tische.

      „Früher war das ganz anders.“

      „Das weiß ich selber.“

      „Das meine ich aber nicht.“

      „Wie soll ich das verstehen?“

      „Ich meine, früher war überhaupt alles anders.“

      „Ach so, Sie meinen, früher war überhaupt alles anders?“

      „Ja, das meine ich.“

      „Warten Sie, bitte, einen Moment. Ich möchte mir gern ein paar Notizen machen.“

      Schmidbruch zog ein giftgrünes Notizbuch aus seiner Rocktasche und notierte: Früher war überhaupt alles anders.

      Kaum hatte Schmidbruch seine Notiz zu Ende geschrieben, fuhr Ferdinand fort:

      „Früher, ja früher … Früher hat es nur einen Speisewagen gegeben. Und heute? Heute führt jeder Zug, jeder Pimperlzug, möchte ich am liebsten sagen, einen Kinowagen mit, einen Badewagen, einen Lesewagen, einen Sportwagen, einen Spielwagen, einen Aussichtswagen und so weiter und so weiter. Früher ist der Reisende in den Speisewagen gegangen, wenn ihm langweilig war. Heute? Heute geht er ins Kino, ins Bad, er geht lesen, spielen oder sonst irgendeinen Blödsinn machen. Für das Cordon bleu, das Sie da kalt werden lassen. Essen Sie doch, bitte, ist ja eine Schande, wenn es kalt wird, so ein schönes Stück!“

      „Kümmern Sie sich nicht um das Cordon bleu, das kann warten, die Hebung des Umsatzes nimmermehr. Mein Werk ist in Gefahr, was kümmert mich da mein Essen. Fahren Sie fort!“

      „Sehr wohl. Ich wollte sagen, ich, ich weiß nicht mehr, wo ich unterbrochen habe.“

      „Sie sagten: Für das Cordon bleu hier …“

      „Ja, für das Cordon bleu hier, ich meine, für das entsprechende Geld natürlich, kann sich heute ein Reisender ein paar Stunden in den Kinowagen setzen, er kann baden, er kann sich massieren lassen dafür oder was weiß ich noch alles mögliche dafür bekommen. Heute hat der Reisende ganz andere Möglichkeiten sich zu zerstreuen, heute ist eben alles ganz anders.“

      Schmidbruch notierte: Heute ist alles ganz anders.

      „Außerdem“, fuhr Ferdinand fort, „schauen Sie sich einmal um, was für eine Reklame die anderen alle machen. Daß Sie sich heute zum Beispiel im Zug baden können, das lesen Sie in jeder Illustrierten, das sehen Sie auf Plakaten, in Reklamefilmen, ja, sogar …“, er fingerte aus seinem Hosensack eine Schachtel Zündhölzer heraus und hielt sie Schmidbruch hin, „ja, sogar auf den Zündholzschachterln steht es schon oben, ist natürlich“, er warf selbst einen Blick darauf, wie um sich zu vergewissern, „ist natürlich auch ein nacktes Weib darauf. Ohne das geht es ja überhaupt nicht mehr.“

      Schmidbruch notierte: nacktes Weib.

      Ferdinand war nicht mehr zu halten: „Und was machen wir“, fuhr er fort, „wenn ich respektvollst fragen darf? Wir machen gar nichts. Die gekreuzten Gabeln im Fahrplan und die Aufschrift auf dem Waggon, das ist unsere einzige Reklame.“

      Schmidbruch notierte: Reklame.

      „Aber das alles wäre noch lange nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, daß es keine Esser mehr gibt. Ich meine richtige, gute Esser, denen man nicht zuschauen kann, ohne selbst Appetit zu bekommen. Heutzutage essen alle so, als müßten sie eine Arbeit damit verrichten. Wenn man da zuschaut, wie die eilige Welt ihr Essen hinunterwürgt, süß und sauer mit dem gleichen faden Gesicht, vergeht einem jeder Appetit, und es darf einen nicht wundern, wenn unsere Waggons leer bleiben.“

      „Sie glauben also, daß ein paar gute, genießerische Esser imstande wären, allgemeinen Appetit zu erregen, die Gäste zum Essen zu animieren, kurz und gut das Hauptmittel wären, unsere Umsätze wieder zu heben.“

      „Genau das meine ich, Herr Präsident, genau das, ich werde Ihnen noch etwas erzählen, da war …“

      Pizarrini hatte sich, als er noch eine Portion Croûtons bestellte, zweifellos zuviel zugemutet. Außerdem hatte er auch zu hastig und unbeherrscht gegessen; denn während er das köstliche Mahl schon beendet hatte, waren Schmidbruch und Podesta noch mitten darin. Jener schweigsam und mit behutsamem Genuß, dieser mit nicht weniger Freß- und Trinkfreude, aber auf eine andere Art: laut, ungeniert, seine Erzählung immer wieder mit Ausrufen des Entzückens und Wohlbehagens unterbrechend.

      Pizarrini hatte sich zweifellos zuviel zugemutet.

      Er saß bei einem weiteren Glas Wein, das er sich – unbeholfen und seiner tolpatschig gewordenen Hände nicht mehr sicher –, nicht ohne dabei etwas Wein zu verschütten, selbst nachgeschenkt hatte, und starrte trübselig vor sich hin. Es war ihm nicht gerade übel, aber Wohlbehagen war es auch nicht, was er empfand. Er hatte zuviel gegessen. Er kannte das. Immer, wenn er zuviel gegessen hatte, immer, wenn übermäßige Sattheit auf ihm lastete wie eine unerkennbare, sich nicht offenbarende Schuld, dunkelten ob seinem Haupt die schwarzen Schatten der Melancholie.

      Er mußte rülpsen.

      „Was bewegt Sie so?“ fragte ihn Präsident Schmidbruch teilnahmsvoll.

      Pizarrini deutete auf den nassen Fleck verschütteten Weins, der inzwischen etwas kleiner geworden war, und sagte leise: „Die weißen Flecken auf dem Globus unserer Erde werden kleiner und kleiner. Bald werden sie ganz verschwunden sein. Ein paar Flecken noch im brasilianischen Urwald, ein paar in der Antarktis. In wenigen Jahren werden auch sie fein säuberlich kartographiert sein, und wir werden uns einbilden, unsere Erde nun ganz zu kennen. Aber, werden wir sie kennen, Herr Präsident, Herr Ingenieur Podesta? Glauben Sie wirklich, meine Herren, daß wir deshalb unsere Erde nun ganz kennen werden, weil auf dem lächerlichen Stück Papier, das wir Landkarte nennen, kein Fleck mehr frei sein wird, auf dem nicht irgendwelche Farben und Zeichen Gebirge, Wasser, Wüste oder ähnliches bedeuten werden? Nein, meine Herren“, er deutete abermals auf den nassen Weinfleck hin, „die weißen Flecken des Globus mögen kleiner und kleiner werden, sie mögen schließlich ganz verschwinden, aber der Wein, der verschüttet wurde, bleibt verschüttet. Daran kann kein Mensch mehr etwas ändern.“

      Es war Präsident Schmidbruch und Ingenieur Podesta nicht anzumerken, welchen Eindruck die schwermütigen Betrachtungen Pizarrinis auf sie gemacht hatten. Gerade mit Teilen des Brathuhns beschäftigt, die ihre ganze und ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchten, waren sie außerstande, ihm zu antworten, und nickten ihm statt dessen nur einige Male