Название | Mörder-Quoten |
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Автор произведения | Leo Lukas |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783800099023 |
Beim Wort Schnittverletzungen musste ich an die vom Bravo beschriebene klaffende Halswunde des Buchmachers denken. Davon stand freilich nichts in dem einspaltigen Artikel, der übrigens mit 9.25 Uhr datiert war. Das hätte Gugus unheimlich unauffälliger Klient also schon deutlich vor mir gelesen haben können.
Ähnliches galt für das erwähnte Ölbild. Die Homepage des KHM bestätigte, dass es seit geraumer Zeit im Saal VIII ausgestellt wurde. Mit dem um zirka 1515 entstandenen Dreiviertelporträt hatte Ticiano Vecellio „das von seinem Lehrer Giorgione entwickelte halbfigurige Aktionsbild zu geballter Dramatik gesteigert.“ Na bitte, wieder was gelernt. In der Tat bezeichnete das italienische Wort Bravo einen „Schergen im Auftrag eines Herrn“. Man nahm an, dass die Szene die Attacke des Gaius Lusius auf Trebonius zeigte, oder aber die Gefangennahme des Bacchus.
Mit Mühe widerstand ich der Versuchung, die mir unbekannten Namen, also alle außer Bacchus, nachzuschlagen. Stattdessen blieb ich beim Suchbegriff „Bravo“.
Neben der wenig überraschenden Verwendung als Applaus-Bekundung poppten unzählige Verweise auf die bekannte Jugendzeitschrift auf. Eine Weile blieb ich doch bei einem Artikel hängen, in dem Martin Goldstein gewürdigt wurde, „der Mann, der Dr. Jochen Sommer war“. Als „jüdischer Mischling ersten Grades“ verbrachte er sein 17. Lebensjahr in einem Zwangsarbeitslager der Nazis und später in einem Waldversteck nahe seiner Geburtsstadt Bielefeld. 1969 engagierte ihn die Bravo, weil er ein Sexualaufklärungsbuch veröffentlicht hatte, und der Rest ist Literaturgeschichte.
Nebst einer Fruchtsaftmarke fand ich schließlich doch eine Korrelation von Bravo zu Mordfällen aus jüngerer Vergangenheit. Im Zusammenhang mit einer Kleinpartei, die für eine Periode im österreichischen Parlament vertreten war, stieß ich auf eine Aussage des Parteigründers. Der aus der Oststeiermark stammende, etwas exzentrische Milliardär hatte mit seiner Forderung nach der Todesstrafe aufhorchen lassen, und zwar für Berufskiller. Falls ein solcher „die Tochter eines Richters tötet, ist die Demokratie in Gefahr. Man muss das durchdenken.“
Nun war der gute Mann auch sonst für allerlei von sich gegebenen Mumpitz berüchtigt. Jedoch hatte damals ein Boulevardblatt eine Verbindung zu einem Bombenanschlag in Südtirol konstruiert, dem tatsächlich eine Frau, deren Vater das Richteramt bekleidete, zum Opfer gefallen war. Die Zeitung zitierte „gewöhnlich gut informierte Kreise“. Denen zufolge wäre die Wiener Kriminalkommissarin Karin Fux seit Längerem auf der Spur eines Auftragsmörders, der unter dem Decknamen Bravo sein Unwesen triebe. Ein anderes, etwas seriöseres Medium verwies auf ein zwei Tage später erfolgtes Dementi besagter Beamtin. Nicht ohne süffisant zu belehren, dass es in Österreich, entgegen einer durch TV-Serien verbreiteten Ansicht, gar keine Kommissare gab, im Unterschied zu jenem Dienstgrad der deutschen Polizei. Vielmehr bekleidete Frau Fux den Rang einer Chefinspektorin.
Selbstverständlich konnte der Mann, der mich in der Grazer Ordination für Gugu gehalten hatte, auch das alles, ebenso leicht wie ich, aus dem Internet erfahren haben.
Mittlerweile war die rustikale Matrone ausgestiegen, nicht in Bruck, aber gleich danach in Kapfenberg. Ich zückte mein Handy und wählte die Nummer der Gruppenpraxis. Wie erwartet, war Professor Guthmann gerade nicht zu sprechen, da in einer Sitzung. Ich bat um Rückruf. Die Empfangsdame, deren entzückender kubanischer Akzent mir zuvor gar nicht aufgefallen war, versprach, das so bald wie möglich auszurichten.
Mangels sinnvollerer Optionen checkte ich meine E-Mails. Viel Schrott, wie immer. Massenhaft Newsletter, die ich längst hätte abbestellen sollen. Ein gutes Dutzend Einladungen, sich an irgendwelchen Unterschriftenaktionen, Demonstrationen oder Solidaritätsauftritten zu beteiligen, alles unbezahlt, versteht sich. Seit dem Corona-Kahlschlag gab es bei Benefizveranstaltungen nicht einmal mehr Fahrtspesen und die früher obligaten Gutscheine für ein Essen und zwei Getränke. Wenigstens eine etwas erfreulichere Nachricht war darunter, nämlich von meiner Casting-Agentur: die kurzfristige Anfrage für eine Nebenrolle mit zwei Drehtagen. Zwar nur ein Kurzfilm als Diplomarbeit an der Filmakademie, aber immerhin gab es ein bisschen Gage. In Zeiten wie diesen musste man nehmen, was man angeboten kriegte. Da außerdem mein Terminkalender nicht eben überfüllt war, sagte ich zu.
Knapp vor dem Bahnhof Semmering läutete mein Telefon. „Abermals hallo, Pezi“, sagte Gugu. „Ich nehme an, es geht um das Geld für die Anthologie. Du bist so überhastet davongerannt …“
„Hab den Intercity gerade noch erwischt. Und nein, du schuldest mir nichts. Ich bekomme ja zehn Belegexemplare gratis. Aber ich wollte dich etwas über deinen Klienten fragen.“
„Über welchen? Ich darf dir von Berufs wegen nicht …“
„Der ebenfalls im Zimmer zwei war.“
„Ach so. Den habe ich nur kurz gesehen. Das personifizierte umgekehrte Riddoch-Syndrom.“
„Hä?“
„Kleiner Psychiaterwitz. Bei Riddoch kann der Patient keine unbewegten Objekte erkennen, auch bewegte nur schattenhaft. Umgekehrt, also dass jemand derlei bei anderen auslösen kann, gibt’s das natürlich nicht. Obwohl dein Kollege nahe dran ist, alle Ehre.“
„Kollege? Hat er das gesagt?“
„Sonst nicht viel. ‚Pardon, der Kollege hat etwas vergessen‘, oder so ähnlich. Dann ist er dir hinterher. Hat er dich denn nicht eingeholt?“
„Nein.“ Unwillkürlich blickte ich mich um. Im zu etwa einem Drittel gefüllten Waggon fiel mir auf die Schnelle kein bekanntes Gesicht auf. Andererseits hatte der Bravo kein Gesicht, das einem auffiel … „Hat er nach meinem Namen gefragt?“
„Nein. Er ist fast so schnell rausgeflitzt wie du.“
Davor schon hatte Gugu mich mit Pez angeredet, schoss es mir siedend heiß ein. Gleich darauf beschwichtigte ich mich wieder: Als Pez oder Pezi wurde ich praktisch nirgends offiziell geführt. Außerdem ging ich doch eigentlich immer noch davon aus, es mit einem relativ harmlosen Irren zu tun gehabt zu haben, nicht wahr?
„Apropos Wahrnehmungsstörungen“, sagte ich. „Wie weit kann so etwas gehen? Ich meine, ist es möglich, dass man eine Bluttat begangen hat, sagen wir einen Mord, und kurz darauf jegliche Erinnerung daran gänzlich verdrängt? Rein theoretisch, ich bereite mich gerade auf eine Rolle vor. Für einen Diplomfilm“, fügte ich unnötigerweise hinzu.
„Möglich ist auf meinem Gebiet fast alles. Blackouts nach traumatischen Ereignissen sind nicht selten. Wobei Amnesie auch nach Unfällen oder Vergiftungen auftritt. Die Wahrnehmung spielt ebenfalls hübsche Streiche. Beim Capgras-Syndrom glauben Patienten, ihnen nahestehende Personen wären gegen identisch aussehende Doppelgänger ausgetauscht worden. Wer vom ebenfalls recht seltenen, nach einem Hirninfarkt auftretenden Anton-Syndrom betroffen ist, weigert sich anzuerkennen, dass er blind ist.“
„Was! Die glauben, ganz normal sehen zu können?“
„Ja. Faszinierend, nicht wahr? Unter dem Walking-Corpse-Syndrom Leidende sind davon überzeugt, gestorben zu sein, zu verwesen oder das Blut sowie die inneren Organe verloren zu haben. – Pez, sei mir bitte nicht böse, mir fiele noch allerhand Bizarres ein, beispielsweise über die unglaublich charismatische Ausstrahlung von Manikern, aber mein nächster Klient steht vor der Tür. Kannst mir ja schreiben, wenn du konkrete Fragen hast. Mach’s gut, Alter!“
Halb erschüttert, halb erleichtert sank ich gegen die gepolsterte Rückenlehne des Sitzes. Verglichen mit den eben aufgezählten Macken wirkte es fast schon wieder unspektakulär, wenn sich jemand bloß für einen Auftragsmörder hielt.
Eines, fiel mir ein, hatte ich noch nicht nachgeprüft: den Namen Hugo Pekarek.
Google warf eine uralte Zeitschrift aus, die Mittheilungen des Ornithologischen Vereines „Die Schwalbe“ in Wien vom 16.