Название | Zuber |
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Автор произведения | Josef Oberhollenzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | Transfer Bibliothek |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990371114 |
2Und aber noch ein zweites mal, nämlich am peterundpaultag des jahres neunundfünzig, an einem 29. juni also, würde eine meterhohe schlamm- und steinlawine sich durch Aibeln wälzen und noch einmal die räume zwischen den häusern füllen, 42 tage nach Vitus Sültzrathers sturz von einem baugerüst im nachbarsdorf Garn.
3In Aibeln, sagt F., habe er kaum je etwas gegenteiliges gehört; nur immer wieder den satz: Der Kalberhof sei ja zugrunde gegangen wegen dem, der habe die weingärten ja vollkommen verkommen und verwildern lassen und nichts als geschrieben die ganze zeit – „oder was“; immer am ende dieses hinterhergeworfene „oder was“, sagt F., „diesen letzten tritt“.
4Vgl. Karl Philipp Moritz, Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit, in: Gnothi Seauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. Ersten Bandes erstes Stück, Berlin 1783, S. 65 f.: „Die allerersten Eindrücke, welche wir in unsrer frühesten Kindheit bekommen, sind gewiß nicht so unwichtig, daß sie nicht vorzüglich bemerkt zu werden verdienten. Diese Eindrücke machen doch gewissermaßen die Grundlage aller folgenden aus; sie mischen sich oft unmerklich unter unsre übrigen Ideen, und geben denselben eine Richtung, die sie sonst vielleicht nicht würden genommen haben. [..] Sollten vielleicht gar die Kindheitsideen das feine unmerkliche Band seyn, welches unsern gegenwärtigen Zustand an den vergangnen knüpft, wenn anders dasjenige, was jetzt unser Ich ausmacht, schon einmal, in andern Verhältnissen, da war?“
5„Stell sie an die wand! Stell sie an die wand und erschieße sie! Knall sie ab!“
6Soweit er das beurteilen könne, sagt F., dürften die einzelnen zeitungsausschnitte „doch einigermaßen chronologisch“ aufgeklebt worden sein, auch wenn nicht immer klar sei, ob der darunter- oder danebengeklebte ausschnitt der folgende sei. Es seien zwar handschriftlich datumsangaben dazugefügt worden – „15. Juni 29“, „1. Juli 29“ und „1. November 29“ –, eine exakte zuordnung traue er sich „aber noch nicht“ zu, da habe er noch zu recherchieren, was aber heutzutage – die meisten deutschsprachigen zeitungen des tirolischen raums seien mittlerweile ja in der Landesbibliothek Teßmann digital abrufbar – ein leichtes sein sollte. Aufgrund der deutlich antiitalienischen einstellung des schreibers oder der schreiber käme ja sowieso nur eine im österreichischen Tirol erscheinende zeitung in frage, wahrscheinlich, so nehme er es jedenfalls im augenblick aufgrund des gleich bleibenden schriftbilds an, eine einzige, nämlich Der Südtiroler, der damals halbmonatlich in Innsbruck erschienen sei.
7Die unterstreichungen – in welcher farbe, sagt F., sei auf der kopie natürlich nicht auszumachen – „sind sicher vom Sültzrather“.
8Immer wieder habe Vitus Sültzrather – denn daß dieser die zeitungsartikel ausgeschnitten und zusammengefügt habe, daran könne wohl kein zweifel sein – die einzelnen „vielfach doch sehr einseitig berichtenden berichte“, so F., nicht vollständig oder als ein ganzes aneinandergefügt, sondern habe mitten im artikel und sogar mitten in einem satz den schnitt gemacht: Er habe sie sich zurechtgeschnitten, „ja“, aber was er weggeschnitten, was er weggelassen habe, „danach gehe ich in den nächsten wochen auf die jagd“.
9Großvater von Dr. Hieronymus von Lutz, dem totenbeschauer Vitus Sültzrathers.
„Was werden wir uns zu erzählen haben, Klaus“
oder: Die kindheit ein paradies 10
„Glück ist, wenn gräsergleich dich Erinnerung
Streift an den Schläfen. Wenn diese erste Welt
Der Blicke und der Benennungen wiederkehrt“
(Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo)11
„Nichts ist mehr, was es war. Und deshalb sind auch wir
nicht mehr, was wir einst waren; wir müssen inzwischen etwas völlig
anderes geworden sein, aber wir wissen nicht genau, was.“
(W. G. Sebald, Echos aus der Vergangenheit)12
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„Dann fangen wir an“, sagt F. und ist dann eine weile still; als überlegte er, wie er anfangen soll. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“, habe der Kalber Vitus wie zu sich selbst vor sich hingeredet13, als sie sich das erste mal zu ihm hinübergetraut habe, habe ihm die Jaist Kreszenz vom Blaaserhof erzählt, sagt F., denn, habe sie gesagt, es habe ja immer geheißen „Der spinnt!“ und „Dem ist nicht zu traun!“ und „Wie der schon dreinschaut!“ und „Es ist ja nichts geworden aus dem!“ und „Wie es die Schilcher Notburga nur aushält bei dem!“ und „Wenn der nicht im rollstuhl säße, wer weiß ..“. Hinterm Kalberhof im kalberschen obstgarten sei das gewesen, die apfelbäume hätten gerade geblüht14, sie habe die abkürzung in den friedhof hinauf durch eben diesen kalberschen garten genommen, wie es früher, als sie noch ein kind gewesen sei, „der Kalber Vitus, müssen Sie wissen, war ja mehr als zwanzig jahre älter als ich“, wie es früher halt überall üblich gewesen sei, da habe sich niemand um grenzen geschert – außer beim ackern und mähn, da sei nichts zugesperrt worden „wie heut“, bei dem einen oder dem anderen habe man sogar ohne zu fragen vom wenigen obst, das auf diesen mehr als tausend metern meereshöhe noch vor dem winter gereift sei, oder von den johannisbeeren15 essen können. Nur einmal, „das muß ich Ihnen jetzt erzählen“, habe die Blaaser Kreszenz an dieser stelle gesagt, sagt F., als der Kalber Vitus und der Blasegger Bonifaz auf den walcherschen kirschbaum hinauf seien, da sei der alte Walcher mit einem heustecken auf sie los – und auf den einbeinigen, den holzprothesenbehinderten Blasegger Bonifaz habe er derart eingedroschen, mit einer solchen wut, daß er ganz rot, kirschrot beinah geworden sei im gesicht und man schließlich den arzt habe holen müssen, nicht nur für den Blasegger Bonifaz. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“ –: Ja, da sei sie vielleicht siebzehn oder achtzehn gewesen, als der Kalber Vitus – „mit diesen beiden sätzen!“ – eine nur immer stärker werdende anziehungskraft auszuüben begonnen habe auf sie. „Nein, sechzehn“, habe sich die Blaaser Kreszenz korrigiert, denn es sei im dreiundsiebzigerjahr gewesen, als der Kalber Vitus „diese alles anfangenden obstgartensätze“ gesagt habe, „im mai, ja“, da erinnere sie sich genau; denn damals habe sie sich in Bozen – „in der Electronia“ – ihre erste musikkassette gekauft: The Dark Side of the Moon von Pink Floyd; den tag vergesse sie nie. Und am nächsten oder übernächsten tag sei sie eben, und sie wisse nicht, was der auslöser gewesen sei für ihren mut, die abkürzung durch den kalberschen obstgarten zu nehmen, vielleicht sei sie einfach gedankenlos, nein, eher wohl „voller Pink Floyd“, über den speltenzaun und, noch nicht mit beiden beinen auf kalberschem grund und boden, habe der Kalber Vitus –: „Mit diesen beiden obstgartensätzen hat er mich aufgetan.“ Drum sei dann schließlich zwischen ihnen geschehen, „was halt so geschieht zwischen mann und frau“, wenngleich seine querschnittlähmung – „Mein gott!, Mein gott!“ – –: „Ach was ist alles dies, was wir vor köstlich achten“, habe der Andreas Gryphius einmal, „so ungefähr!“, in einem gedicht gesagt; mehr sage sie dazu nicht, habe sie gesagt, sagt F.; und eine art monalisalächeln habe sich in ihr gesicht gelegt. – „Vielleicht an einem anderen tag ja einmal mehr.“
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„Dann fangen wir an“, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz im bozner Wirtshaus Vögele gesagt, wo sie sich, „wie aus alter gewohnheit?“16, verabredet hätten