Zuber. Josef Oberhollenzer

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Название Zuber
Автор произведения Josef Oberhollenzer
Жанр Языкознание
Серия Transfer Bibliothek
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990371114



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       Anhang

      „Von allem Anfang an der Beginn.“

       (oder: Der Zuber träumt nicht mehr)

      „Phantomschmerz: Kajetan. –

      Wann hab ich dich Zuber getauft? –

      Von allem Anfang an der Beginn.“

      (Vitus Sültzrather, Vermischte Erinnerungen)1

      Aibeln, heißt es, liege abseits der geschichte, die es zu erzählen gilt; da sei kaum etwas, nein, da sei jahrhunderte nichts geschehn, was einem im gedächtnis geblieben sei und was einem andern als einem solchen zu erzählen gewesen wär: Kaum habe man außerhalb seiner grenzen von der anwesenheit dieses dorfes gewußt. Da sei man morgens aufgestanden, da sei man abends ins bett gegangen, da habe man in die zukunft hinein gelebt, als ob sie die vergangenheit wär: Wer geboren worden sei, der würde einmal sterben, so oder so, sagt F., und nur selten auf eine weise, die anders gewesen wäre als die übliche; davon jedoch habe man auf dem friedhof sich dann noch nach jahren erzählt. Bis in den frühling 1929 hinein sei die zeit nicht vom fleck gekommen, habe die welt sich von einer jahreszeit in eine andere gedreht, als ob nichts gewesen wäre als das, was immer schon gewesen sei: ein baum manchmal, der einen holzknecht erschlägt .. oder eine schneelawine in eine schlafkammer hinein und durch die stube hinaus .. oder einer, der durchs futterloch hinunter auf den stallboden stürzt .. oder eine schlamm- und steinlawine einmal, die habe die räume zwischen den häusern gefüllt2 .. oder ein kind, das starb früher als ein anderes kind. „Aber auf dem Prennhof“, habe Vitus Sültzrathers älteste schwester, die Kalber Cäcilia, gesagt, „da haben nach dem ersten großen krieg achtzehn kinder die kindheit überlebt“, jetzt lebe keines mehr. Doch das sei eine andere geschichte als die, die es zu erzählen gelte, sagt F., nämlich den einbruch der geschichte in die geschichten der aibelner und in die aibelnsche zeit an jenem letzten montag des neunundzwanzigerjahrs, am 29. april. „Von da an ist alles anders gewesen“, habe ihm die Kalber Cäcilia gesagt, schon mehr als neunzigjährig, sagt F.; da sei der Vitus ja noch nicht einmal auf der welt gewesen – und doch habe jener tag oder vielmehr der mittwoch danach, wenn sie jetzt in seinem geschriebenen stöbere oder in den vergilbten zeitungsausschnitten, die sie in der küchentischschublade des von ihrem „großen kleinen bruder“, mit dem sie sonst ja kaum einen kontakt gehabt habe in seinen letzten jahrzehnten, ja vollkommen heruntergewirtschafteten Kalberhofs3 gefunden habe nach seinem tod am tag der heiligen Rita von Cascia und der heiligen Julia von Korsika – Ach wie lang sei das schon wieder her! – – und doch habe jener erste mittwoch im mai neunundzwanzig, als Kajetan, „mein großer bruder“, den der Vitus dann Zuber getauft habe, „wie ich nun weiß .. und seit kurzem erst“, habe die Kalber Cäcilia gesagt, aus der mutter heraus in die welt gestürzt sei, beim melken, im stall: aus dem träumen gefallen, noch nicht zum wachen bereit: Wie müsse es der mutter da „eng ums herz“ gewesen sein! – – – und doch habe jener 1. mai 1929, „der ein mittwoch gewesen ist“, Vitus’ leben schon umgekrempelt wie sonst nur noch sein sturz vom baugerüst in seinem achtundzwanzigsten jahr. Aber sie habe nie davon erzählt, sie habe nie geredet davon, „nein“; soweit sie sich erinnere, auf jeden fall, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Denn an alles, was „ganz früher“ gewesen sei, da erinnere sie sich genau, da wisse sie alles noch, als ob’s „erst gestern“ gewesen wäre; aber was gestern gewesen sei, davon wisse sie das meiste nicht mehr, seit langem schon; auch was sie gestern gegessen habe, „da weiß ich jetzt nichts“, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Weil ja, was erst gewesen sei, nicht so wichtig sei, habe sie gesagt; wichtig sei das längst vergangene, denn in der kindheit „wird alles, wie es dann ist“; das sei geschichte und: „von allem der kern und die frucht“4 – und also, sagt F., erinnerns- und erzählenswert. Denn das habe sie schon in der schule gelernt, auch wenn es ja bloß die italienische und die faschistische gewesen sei, daß geschichte „ganz lang her“ sein müsse, daß alles andere noch lang nicht eine geschichte sei –: „Etwas mehr als fünf jahre war ich, als das alles gewesen ist“, habe die Kalber Cäcilia gesagt. Und dann, sagt F., habe sie ein paar blätter aus ihrer schwarzen handtasche heraus, kopien, habe er gesehn, und ihm überreicht: „Die originale geb ich nicht aus der hand“, habe sie gesagt, sagt F., und die paar blätter, ja, die habe sie in der küchentischschublade gefunden, als sie, „vielleicht ein paar tage nach Vitus’ tod“, nach etwas „gekramt“ habe, was man für gewöhnlich, in ihrer gegend auf jeden fall, halt in küchentischschubladen finde; das wisse sie noch, habe sie gesagt, aber sie wisse nicht mehr was: „Das liegt auch in meinem schwarzen loch.“ – Sie sei nicht neugierig, nein, „längstnichtmehrnimmermehr“, ja, nimmermehr, wie man in den märchen sage, sie habe die märchen ja geliebt ihr ganzes leben hindurch, nein, die neugier habe sie sich schon in den ersten ehejahren abgewöhnt, aber sie sage jetzt nicht warum, das gehe keinen etwas an, „einen henndreck geht das einen an!“ – aber da seien zwischen den vergilbten und über und über mit fettflecken übersäten blättern – wie oft müsse der Vitus die in den händen gehabt haben .. und vielleicht habe er sie in die küchentischschublade getan, um sie gleich bei der hand zu haben .. und sie habe ja die meiste zeit ihres lebens im bett und in der küche zugebracht .. und manchmal habe sie sich ja statt dem Konrad einen rollstuhl gewünscht .. und wie wohl der Vitus geträumt habe, habe sie sich oft gefragt, und ob er da auch im rollstuhl .. „oder ob er da noch rennen konnte?“ –, zwischen den vergilbten blättern seien da auch eine menge vergißmeinnicht gelegen, getrocknet und plattgepreßt .. und daß der Vitus vergißmeinnicht geliebt habe, das habe sie auch nicht gewußt. Sie habe ja vieles nicht gewußt, was sie, in seinem schreiben stöbernd, erst erfahren habe nach seinem tod. Aber sie wolle ihn, habe sie lächelnd gesagt, „ich will dich nicht aufhalten im lesen“; denn sie sehe ja, wie neugierig er sei auf das, „was der Vitus da aus den zeitungen kreuz und quer zusammengeklebt hat“ über jenen neunundzwanzigerfrühling, der nie vergessen sei .. und an den sie sich genau erinnere, ja, „ganz genau“, auch wenn sie damals erst etwas mehr als fünf gewesen sei. Was das für ein aufruhr gewesen sei nach dem mord „an diesen drei italienern“, zwei carabinieri seien das gewesen und ein lehrer .. und den vater habe man ja sofort verhaftet und in den brixner kerker gesteckt, obwohl der doch im bett gewesen sei, „in der oberstube im bett“ .. das habe die mutter immer und immer betont, daß der vater ja im bett gewesen sei mit ihr. Was das für ein aufruhr gewesen sei, habe die Kalber Cäcilia gesagt, als man die leute, „noch in ihren hemden und nachthemden zu gang“, auf jenem anger hinterm Pfarrwirt, der damals schon in thalhoferschem besitz gewesen sei, zusammengetrieben und dann nichts als schikaniert habe den ganzen tag! Was für ein geschrei, was für ein gebrülle und gejammere sei das gewesen, was für eine aufgeregtheit und erregung, bei den uniformierten auch, was für ein entsetzliches durcheinander! Und man habe den leuten ja nichts zu trinken und zu essen gegeben, nur immer wieder geschlagen und angeschrien habe man sie .. und dann und wann habe man den einen oder anderen in ketten gelegt und weggebracht .. „wie dann den vater, ja“ .. und ein uniformierter habe sogar geschrien – auch daran erinnere sie sich, als wäre es erst gestern gewesen, sie habe zwar nicht verstanden, damals, was es geheißen habe, sie habe ja kein italienisch gekonnt, aber sie habe sofort gewußt, daß es etwas schreckliches sein müsse, schon die stimme, dieser ton, und wie die leute zusammengezuckt seien, wie sie erstarrt seien plötzlich, sie habe die angst richtig riechen können, sie rieche diese angst heute noch, wenn sie vorbeigehe an diesem anger hinterm Pfarrwirt, wo der Vitus noch vor seiner geburt geworden sei, was er schließlich geworden ist – und einer von den uniformierten, der müsse wohl „ein höherer“ gewesen sein, der habe sogar gebrüllt: „Mettili al muro e fucilali! Mettili al muro e fucilali!“ In der schule habe sie dann gelernt, was das geheißen habe, das sei ihr nicht mehr aus dem kopf, nie mehr: „Mettili al muro e fucilali! Mettili al muro e fucilali!“5 Auch wenn sie vieles vergessen habe, das sei ihr wie ins gedächtnis eingebrannt, eingeschnitzt, eingestemmt. Daß da die mutter, daß da der Kajetan, daß der Zuber da –. Ja, doch, sie habe das alles vom dachbodenfenster herunter gesehen .. „und bis heute träume ich das“ .. sie wolle aber