Moderner Fundamentalismus. Stefan Breuer

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Название Moderner Fundamentalismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783863935566



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weit von der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit entfernt ist. Es handelt sich um einen großen Flächenstaat mit starker Polarisierung zwischen arm und reich, ausgeprägten Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Leibeigenschaft sowie einer Anarchie, wie sie für das Auflösungsstadium des Naturzustands charakteristisch ist. Rousseaus Empfehlungen kommt deshalb eine Bedeutung zu, die weit über seine sonstigen, eher ‚katechontischen‘ Ratschläge hinausgeht. Der polnische Staat soll in seinem Umfang erheblich reduziert und in eine Föderation kleinerer Staaten verwandelt werden. Das ökonomische System soll auf den Primat der Landwirtschaft ausgerichtet und so organisiert werden, daß möglichst wenig Geld gebraucht wird. Die Verwaltung soll vereinfacht werden, indem man die Beamtenbesoldung auf Naturaldeputate umstellt, die nötigen Infrastrukturmaßnahmen über Frondienste abwickelt und die staatlichen Geldleistungen minimiert. In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, das stehende Heer abzuschaffen und die Verteidigungsaufgaben einer Miliz zu übertragen.

      Um die soziale Kohäsion zu sichern, soll der Abbau der Organisationen durch einen Ausbau des Erziehungswesens und eine Aktivierung des Patriotismus kompensiert werden. Rousseau propagiert eine Pädagogik, die ihre Objekte in permanenter Bewegung hält; eine ebenso permanente Mobilmachung der Bürger für die Sache des Vaterlandes in öffentlichen Festen, Kulten und Zeremonien; die rigorose Verbannung aller Zerstreuungen; die Etablierung gesellschaftlich verbindlicher Formen der Ächtung; und die Einschwörung der Bürger auf jene religion civile, für deren Verletzung schon der Contrat Social die drakonischsten Strafen vorsieht (CS 156/468). Und wie auch anders: Wenn der allgemeinste Wille immer der gerechteste und die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist (EP 232/246), kann, wer ihr nicht folgt, nur ein Teufel sein. Und gegen Teufel ist das härteste Mittel gerade recht.

      Der moralische Fundamentalismus, das zeigen Rousseaus Vorschläge überaus deutlich, zielt nicht auf die Fundamente der schlechten Vergesellschaftung. Es gehe nicht darum, heißt es in der Korsika-Schrift, das Privateigentum völlig aufzuheben, sondern nur darum, es zu bändigen und dem öffentlichen Wohl unterzuordnen (Rousseau 1981, 541/931). Ebensowenig, präzisiert die Polen-Schrift, sei geplant, die Geldzirkulation zu unterdrücken; sie solle nur verlangsamt und von den polarisierenden Wirkungen auf die Sozialstruktur abgekoppelt werden (ebd., 621/1007 f.). Das Mittel für diese Zähmung der Wirtschaft ist die Hypertrophie der Moral: die öffentliche Belobigung der Gutmenschen durch Zensur- und Wohltätigkeitsausschüsse, die zu permanenter Buchführung über ihre Untertanen aufgefordert werden, die Manipulation der Meinungen, die – zwar nicht explizit geforderte, aber implizit in Kauf genommene – Diskreditierung derjenigen, die es an Einsatz fehlen lassen (ebd., 638/1025). Hobbes hatte sich noch damit begnügt, lediglich die Handlungen der Menschen durch den Leviathan kontrollieren zu lassen. Rousseau dagegen weiß, daß ein moralischer Staat auch auf das Innere Zugriff nehmen muß:

      „Wenn es gut ist, zu wissen, wie man sich der Menschen, so wie sie sind, bedienen soll, so ist es noch weit besser, sie so zu bilden, wie man sie nötig hat. Die uneingeschränkteste gesetzmäßige Macht ist diejenige, welche bis in das Innerste des Menschen dringt und nicht weniger auf den Willen als auf die Handlungen einwirkt. Es ist gewiß, daß die Völker mit der Zeit das sind, wozu die Regierung sie macht“ (EP 237 f./251).

      IV.

      Ein von derart tiefen Ambivalenzen und Widersprüchen geprägtes Werk wie dasjenige Rousseaus kann nicht als Ganzes wirken; und so ist es denn auch nicht überraschend, daß die Rezeptionsgeschichte vor allem eine Geschichte der Vereinseitigungen Rousseaus ist. In der einschlägigen Literatur begegnet man einem Rousseau constitutionel ebenso wie einem Rousseau aristocrate, einem Rousseau girondiste ebenso wie einem Rousseau montagnarde, nicht zu reden vom Rousseau der Liberalen, der Sansculotten, der Sozialisten … (Barny 1977; Furet/Ozouf 1996, 1308 ff.).

      Wo aber ist der moralische Fundamentalismus geblieben, der sich in Rousseaus Schriften so deutlich abzeichnet, auch wenn er sie nicht vollständig ausfüllt? Die Frage wäre leicht zu beantworten, wenn man sich nur an die Hypertrophie der Moral halten müßte. Ihr begegnet man auf Schritt und Tritt, zumal beim republikanischen Radikalismus, der 1792 die politische Macht erobert. Ganz im Sinne Rousseaus, der die privaten Tugenden der Güte, Empfindsamkeit und Milde mit der öffentlichen Tugend zu einer untrennbaren Einheit verschmilzt (Furet/Ozouf 1996, 1327), betreibt dieser Radikalismus eine umfassende Moralisierung der Politik, die keinen Bereich ausgespart läßt. „Um ein anständiger Mann zu sein“, erklärt der französische Republikaner dem Bürger von Philadelphia, „muß man ein guter Sohn, ein guter Ehemann und guter Vater sein, in einem Wort, alle öffentlichen und privaten Tugenden vereinen (…), erst dann wird man die wahre Definition des Wortes Patriotismus erhalten“ (ebd., 653). Politik wird zum Medium der Pädagogik. Im Dezember 1791 fordert der Girondist Brissot, ein repräsentativer Vertreter des ‚Gossen-Rousseauismus‘ (Robert Darnton), den Krieg, um „unsere Revolution moralisch zu machen und zu konsolidieren“ (Fischer 1974, 144); Robespierre ruft „alle Tugenden und alle Wunder der Republik gegen alle Laster und alle Lächerlichkeiten der Monarchie“ auf und erklärt die Tugend zum „grundlegende(n) Prinzip der demokratischen Regierung oder der Volksregierung“ (Robespierre 1989, 585 ff.). Die Sektion Bonne-Nouvelle richtet „einen Kursus der Moral und der Vernunft“ ein; die Volksgesellschaft Lazowski eröffnet eine „Moralschule für die jungen Bürger“. „Auf der einen Seite vernichten Unwissenheit und Fanatismus die Früchte von vier Jahren voller Kämpfe und Opfer“, heißt es am 16. Juni 1793 in der Vollversammlung der Sektion Amis-de-la-Patrie, „auf der anderen Seite zerstreuen Unterricht und Aufklärung die Vorurteile und lassen uns eine Revolution lieben, die ihre unzerstörbare Grundlage nur in der Tugend haben kann“ (Soboul 1978, 117, 114).

      Und was Unterricht und Aufklärung nicht besorgen, erreicht die permanente wechselseitige Überwachung der Bürger, die diese Republik zu ihrem obersten Anliegen macht. Das Gesetz vom 22. Prairial erklärt alle diejenigen zu Volksfeinden, die die Sitten verderben, die Tatkraft und Reinheit der republikanischen Grundsätze erschüttern; die Gesellschaften der Sektion Gardes-Françaises und Halle-au-Blé verlangen auch diejenigen aus der Bürgerschaft auszuschließen, „die zur Verschlechterung der Sitten beitragen, sei es durch die Beherbergung von Dirnen, sei es, indem sie irgendeinen anderen Handel solcher Art treiben, den die Lauterkeit und das keusche Leben eines wahren Revolutionärs verabscheuen“ (ebd., 249). „Que chacun de nous soit un comité de surveillance“, lautet die Quintessenz des republikanischen Tugendradikalismus (Markov/Soboul 1957, 218).

      Der moralische Fundamentalismus besteht indes nicht nur aus einer Verabsolutierung der Moral. Er impliziert zugleich eine Absage an die zentralen Tendenzen der Zeit, die funktionale Differenzierung und die formale Rationalisierung. Davon kann bei der Gironde keine Rede sein, die sich politisch und sozial auf das gemäßigte Bürgertum stützt, für die Wirtschaftsfreiheit eintritt und den radikalen Egalitarismus der Sansculotten zurückweist (Furet/Ozouf 1996, 596). Ebensowenig trifft es auf die Montagne zu, die zwar zu Konzessionen an diesen Egalitarismus bereit ist, unter dem Druck der Umstände auch die staatlichen Kompetenzen weiter ausdehnt, als es mit dem Prinzip der funktionalen Differenzierung vereinbar ist, die sich aber nichtsdestoweniger unzweideutig auf die Seite des ‚Fortschritts‘ stellt. „Die Welt hat sich geändert“, ruft Robespierre am 7.Mai 1794 den Delegierten des Nationalkonvents zu, „und sie muß sich noch weiter ändern. Was gibt es gemeinsames zwischen dem, was ist, und dem, was war? Auf die Wilden, die in der Wüste herumirrten, folgten die zivilisierten Völker; reich geernet wird heute dort, wo früher Urwälder die Erde bedeckten“. Robespierre feiert die großen Entdeckungsfahrten, die Erfindungen der Buchdruckerkunst, die Leistungen Newtons, die erstaunlichen Fortschritte der Künste und Wissenschaften, und er fügt hinzu: „In der physischen Ordnung hat sich alles gewandelt; auch in der moralischen und politischen Ordnung muß sich alles wandeln. In der einen Hälfte der Welt ist die Revolution bereits vollzogen; auch in der anderen Hälfte muß sie vollendet werden“ (Robespierre 1989, 655 f.). Mit den Positionen Rousseaus, der die Fortschritte der Künste und Wissenschaften skeptisch beurteilte, mit der Ansicht des Kalifen Omar hinsichtlich der Verbrennung der Bibliotheken sympathisierte und eher für eine Reduzierung der zwischenstaatlichen Kontakte und Reisen eintrat, war dies alles nicht zu vereinbaren, wie auch der entschiedene Progressismus einem Autor anathema sein mußte, dessen größter Wunsch die Verlangsamung war (Fetscher