Moderner Fundamentalismus. Stefan Breuer

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Название Moderner Fundamentalismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783863935566



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Kenntnisse Rousseaus besitzt und in vielem eher die Standpunkte von dessen Gegnern teilt; besonders groß ist die Distanz gegenüber einem der zentralen Punkte rousseauscher Zeitablehnung, der Kritik am Luxus (Barny 1994, 53 f.). Als einen der Hauptreferenztexte für seine Auffassung benennt Babeuf noch in seiner Verteidigungsrede vor dem Schwurgericht in Vendôme (Februar 1797) den Code de la Nature, den er wie viele seiner Zeitgenossen Diderot zuschreibt und nicht Morelly, seinem wirklichen Verfasser (Babeuf 1988b, 83 ff.); Morelly aber polemisiert in diesem Text gegen den Pessimismus Rousseaus und spricht sich für einen Optimismus aus, der „die bestehende Gesellschaft nur in ihrer privateigentümlichen Organisation verwirft, die zivilisatorischen Errungenschaften aber auch der natürlich-idealen Gemeinschaft als positive Werte erhalten möchte“10. Dazu paßt, daß Babeuf in seinem Brief an Charles Germain vom 28.7.1795 sich keineswegs den Maschinenstürmern anschließt, die sich damals auch in Frankreich regen, vielmehr ausdrücklich die Erfindung und den Einsatz arbeitssparender Maschinen befürwortet (1988a, 258 ff.). Dem Vorwurf, die Gesellschaft auf den Zustand der Barbarei zurückbringen zu wollen, hält er entgegen:

      „Weder die Künste noch die Wissenschaften, noch die Produktion werden in Gefahr sein, weit davon entfernt. Sie würden einen Impuls im Sinne der allgemeinen Nützlichkeit erhalten, sie würden auf neue Art angewandt werden, in einer Weise, die die Summe der Annehmlichkeiten für alle zunehmen ließe. Künste, Wissenschaften und Produktion würden sich entwickeln und veredeln, indem sie neue Wege suchten; sie würden ein erhabenes Gepräge erhalten, entsprechend den großen Gefühlen, die eine gewaltige Assoziation Glücklicher notwendigerweise hervorbringen würde. Sie würden aufhören, Sklaven zu sein, nicht mehr dazu verdammt, sich nach dem Belieben von Mäzenen zu verkleinern, könnten sie sich zu grandiosen Konzeptionen erheben, den einzigen, die einer wirklichen Zivilisation würdig sind, die das gemeinschaftliche Glück einschließt, den einzigen, die sie charakterisieren“ (ebd., 264; eig. Übers.).

      Bevor man solche Aussagen als Vorwegnahmen des wissenschaftlichen Sozialismus verbucht, sollte man sich freilich Rechenschaft darüber ablegen, daß Babeuf sich hier auf Formen von Wissenschaft und Technik bezieht, die noch durch einen Hiatus von jenen Formen des verselbständigten general intellect geschieden sind, wie er für das Zeitalter der Industrialisierung typisch sein wird (Dautry 1961, 220 f., 223). Obwohl die Manufakturperiode bereits den Einsatz von Maschinen kennt, bleibt in ihr doch nach der Einsicht von Marx die „handwerksmäßige Tätigkeit (…) das regelnde Prinzip der gesellschaftlichen Produktion“ und mit ihr das produktive Erfahrungswissen der Handarbeit; der Scheidung von Wissen und Arbeit, vermöge deren „das erstre (…) selbst als Kapital der letztren gegenüber(tritt) oder als Luxusartikel der Reichen“11, hat gerade Babeuf den schärfsten Widerstand entgegengesetzt. Seine Lehre richtet sich sowohl gegen die Polarisierung von Reichtum und Arbeit, indem sie den Reichtum als Diebstahl denunziert, als auch gegen die Verselbständigung des Wissens, indem sie la superiorité de talents et d‘industrie zur Chimäre und zum trügerischen Lockmittel erklärt, das immer nur den Komplotten der Verschwörer gegen die Gleichheit diene.

      Das Manifeste des plebéiens lehnt jede Entlohnung ab, die die persönlichen Bedürfnisse übersteigt und attackiert besonders den Anspruch der intelligents, für die Produkte ihres Gehirns einen höheren Preis zu verlangen. Wenn diejenigen, die nur über ihre Körperkraft verfügen, gleichberechtigt die Dinge hätten mit regeln können, hätten sie es zweifellos so eingerichtet, daß das Verdienst der Arme dem des Kopfes gleichgegolten hätte. Erst durch die Nichtbeachtung dieser Gleichstellung sei die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht geraten und hätten sich die Institutionen in solche verwandelt, die nur die wechselseitige Ausplünderung sanktionierten (Babeuf 1988a, 276 f.). Früher und entschiedener als Babeuf hat denn auch ein anderer Mitverschworener, Sylvain Maréchal, den Geist und die Wissenschaften auf den Aussterbeetat gesetzt. Man müsse es nicht bedauern, schreibt er im Oktober 1792 in der Wochenzeitung Révolutions de Paris, wenn die ‚Künste‘ (wozu im Sprachgebrauch der Zeit auch Wissenschaft und Technik zählen) zusammen mit dem Königtum begraben würden, habe doch die Natur zahlreiche und wenig bekannte Wunder anzubieten. Im übrigen könnten die Künste zugrundegehen, „ja, sie könnten zugrundegehen“, wenn man sie nur um den Preis der Freiheit haben könnte. „Denn wenn es wahr ist, daß sie die Kinder des Luxus sind, muß man ihrer entsagen, indem man dem Luxus entsagt, der die republikanischen Tugenden annagt. Mögen daher alle Künste zugrundegehen, eher als die Freiheit, die Gleichheit, die Republik!“12.

      An dieser Stelle tritt ein fundamentalistischer Grundimpuls hervor, der den Babouvismus an Rousseau heranrückt, auch wenn natürlich der letztere einer politischen Intervention in dem von Babeuf angesteuerten Sinne niemals zugestimmt hätte. Tatsächlich hat Babeuf, wie vor allem Roger Barny gezeigt hat, seine anfängliche Distanz gegenüber Rousseau aufgegeben und sich ab 1788/89 immer gründlicher in dessen Texte vertieft, bis diese allen übrigen sonst noch wirksamen Einflüssen den Rang abgelaufen hatten (Barny 1994, 49). In seiner Verteidigungsrede beruft er sich darauf, nichts anderes angestrebt zu haben als der Autor der beiden Diskurse und des Gesellschaftsvertrags; selbst der ihm vorgehaltene Satz aus dem Manifest der Gleichen, der die Künste der wirklichen Gleichheit opfere, sei nur ein Anklang oder eine Nachahmung der Grundsätze Rousseaus, die er sich zu eigen gemacht habe (1988b, 73). Die Identifikation geht so weit, daß er sich selbst mit dem Philosophen vergleicht und seine Frau mit dessen Frau; hatte er schon seine erste Tochter Sophie genannt, so tauft er im Jahre II seinen Sohn Robert in Emile um; das Kind sei, so beteuert er später, la copie fidèle de l‘Emile de Jean-Jacques Rousseau (Larrère 1992, 395).

      Was Babeuf von Rousseau übernimmt, ist die Kritik an der sozialen Polarisierung, die Überordnung der Arbeit und der Existenz über das Eigentum, die Koppelung von persönlicher Güte und öffentlicher Tugend und nicht zuletzt: die religion de la pure égalité (Babeuf 1988a, 272). Gewiß, Rousseau hat eine maximalistische Auslegung dieser Religion nicht befürwortet, nicht im Prinzip und erst recht nicht mit Blick auf seine Gegenwart. Aber er ordnet doch im 9. Kapitel des Ersten Buches seines Gesellschaftsvertrags „das Recht, welches jeder einzelne auf sein besonderes Grundstück besitzt, dem Recht, das dem Gemeinwesen auf alle zusteht“, so nachhaltig unter, daß Babeuf und seine Anhänger sich darauf beziehen können. Nur unter schlechten Regierungen, heißt es in einer Fußnote, sei die Gleichheit scheinbar und trügerisch (CS 27/367), was im Umkehrschluß bedeutet, daß sie unter guten Regierungen wirklich sei – eine Konsequenz, die nirgends entschiedener formuliert wird als in dem von Sylvain Maréchal verfaßten und 1796 vom Geheimen Direktorium der Verschwörer als Charta angenommenen Manifest der Gleichen: „Wir streben von nun an danach, gleich zu leben und zu sterben, wie wir gleich geboren sind: Wir wollen die wirkliche Gleichheit oder den Tod: das ist es, was wir brauchen“ (zit.n. Markov 1982, Bd. II, 680).

      Oder den Tod? Die nähere Ausgestaltung zeigt, daß das System der wirklichen Gleichheit den Tod nur um den Preis einer umfassenden Mortifikation des gesellschaftlichen Lebens zu bannen vermag. Die Verbindungen nach außen werden gekappt bzw. auf einige wenige, vollständig vom Staat kontrollierte ports of trade eingeschränkt; aller Privathandel mit dem Ausland ist, wie im pharaonischen Ägypten, bei Strafe verboten. Auch nach innen funktioniert das System wie ein riesiger Oikos, der dem Bedarfsdeckungsprinzip gehorcht. Mittels Aufhebung der Testierfreiheit sollen nach und nach alle Güter, die sich noch in Privatbesitz befinden, der nationalen Gütergemeinschaft anheimfallen; diese unterhält ihre Mitglieder „auf die gleiche anständige, wenn auch bescheidene Weise“ und kann dafür über ihre Arbeitskraft verfügen. Die Arbeitenden werden in zunftähnlichen Korporationen zusammengefaßt, ihre Produkte in zentrale Speicher abgeführt und redistribuiert. Die Konkurrenz ist ausgeschaltet, Geld wird nicht mehr hergestellt, alle private wirtschaftliche Tätigkeit erlischt. Der Schwerpunkt der gesellschaftlichen Produktion liegt auf dem Agrarsektor. Handwerk und Manufaktur sind zweitrangig. Die großen Städte, Zentren des Lasters und der Korruption, sollen verschwinden und durch kleine, überschaubare ländliche Gemeinden ersetzt werden, in denen zwar die Arbeit noch familial organisiert ist, die Konsumtion aber kollektiv erfolgt, wie in Klöstern und Colleges. Geleitet und kontrolliert wird das Ganze durch eine allmächtige Zentralverwaltung. Wer ihren Anordnungen zuwiderhandelt oder „durch mangelhaftes staatsbürgerliches Verhalten, Faulheit, Luxus und Liederlichkeit ein schlechtes Beispiel gibt“, hat mit Zwangsarbeit