Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Название Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke
Автор произведения Walter Benjamin
Жанр Контркультура
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Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9789176377444



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den Ort des Problems zumindest bezeichnet. »Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin. Ich räume ein, daß im Trauerspiel der Alten dieser Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird … Wie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewußtseyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. – Aber ich bin auch ganz der Meinung, daß das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten.«493 Man hat gegen diese unscharfe, in geschichtsfremder Metaphysik befangene Abschätzung einige Sätze von Rosenzweig zu halten, um des Fortschritts inne zu werden, den die philosophische Geschichte des Dramas mit den Entdeckungen dieses Denkers gemacht hat. »Dies ist ein innerster Unterschied der neuen Tragödie von der alten … ihre Gestalten sind alle untereinander verschieden, verschieden, wie es jede Persönlichkeit von der andern ist … Das war in der antiken Tragödie anders; hier waren nur die Handlungen verschieden, der Held aber war als tragischer Held immer der gleiche, immer das gleiche trotzig in sich vergrabene Selbst. Dem also notwendig beschränkten Bewußtsein des neueren Helden läuft die Forderung, daß er überhaupt wesentlich, nämlich wenn er mit sich allein ist, bewußt sei, zuwider. Bewußtsein will immer klar sein; beschränktes Bewußtsein ist unvollkommenes … Und so treibt die neuere Tragödie nach einem Ziel, das der antiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand … Das kaum gewußte Ziel … ist dies: an Stelle der unübersehbaren Vielheit der Charaktere den einen absoluten Charakter zu setzen, einen modernen Helden, der ebenso ein einer und immergleicher ist wie der antike. Dieser Konvergenzpunkt, in dem sich die Linien aller tragischen Charaktere schneiden würden, dieser absolute Mensch … ist kein andrer als der Heilige. Die Heiligentragödie ist die geheime Sehnsucht des Tragikers … Einerlei ob … dies Ziel für den tragischen Dichter noch ein erreichbares Ziel sei oder nicht, jedenfalls ist es, auch wenn für die Tragödie als Kunstwerk unerreichbar, für das moderne Bewußtsein das genaue Gegenstück zum Helden des antiken.«494 Die ›neuere Tragödie‹, deren Deduktion aus der antiken in diesen Sätzen versucht ist, heißt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit dem nichts weniger als bedeutungslosen Namen ›Trauerspiel‹. Unter dieser Benennung rücken die Gedanken, mit denen die angezogene Stelle schließt, aus der hypothetischen Gestalt der Frage heraus. Das Trauerspiel ist als Form der Heiligentragödie durch das Märtyrerdrama beglaubigt. Und wofern nur der Blick deren Züge unter mannigfaltigen Arten des Dramas von Calderon bis Strindberg zu erkennen sich schult, wird die noch offene Zukunft dieser Form, einer Form des Mysteriums, ihm evident werden müssen.

      Hier handelt es sich um ihre Vergangenheit. Diese führt weit zurück, zu einem Wendepunkt in der Geschichte des griechischen Geistes selbst: zum Tode des Sokrates. Im sterbenden Sokrates ist das Märtyrerdrama als Parodie der Tragödie entsprungen. Und hier wie so oft zeigt die Parodie einer Form deren Ende an. Daß es für Platon sich um das Ende der Tragödie gehandelt habe, bezeugt Wilamowitz. »Platon verbrannte seine tetralogie; nicht weil er darauf verzichtete, ein dichter zu werden im sinne des Aischylos, sondern weil er erkannte, daß der tragiker jetzt nicht mehr der lehrer und meister des volkes sein konnte. er versuchte freilich – so stark war die gewalt der tragödie – sich eine neue kunstform von dramatischem charakter zu schaffen, und er schuf sich statt der überwundenen heroensage auch einen sagenkreis, den von Sokrates.«495 Dieser Sagenkreis vom Sokrates ist eine erschöpfende Profanation der Heroensage durch die Preisgabe ihrer dämonischen Paradoxien an den Verstand. Von außen freilich gleicht der Tod des Philosophen dem tragischen. Er ist Sühnopfer nach dem Buchstaben eines alten Rechts, gemeinschaftstiftender Opfertod im Geist einer kommenden Gerechtigkeit. Aber gerade diese Übereinstimmung rückt ins hellste Licht, was eigentlich es mit dem Agonalen echter Tragik auf sich hat: jenem wortlosen Ringen, stummen Entlaufen des Helden, das in den Dialogen einer so glänzenden Entfaltung der Rede und des Bewußtseins Platz gemacht hat. Aus dem Sokratesdrama ist das Agonale herausgebrochen – ist doch selbst sein philosophisches Ringen markierendes Training – und mit einem Schlage hat der Tod des Heros sich in das Sterben eines Märtyrers verwandelt. Wie der christliche Glaubensheld – das hat die Neigung mancher Kirchenväter wie der Haß Nietzsches mit unfehlbarer Wittrung gespürt – so stirbt Sokrates freiwillig und freiwillig, in namenloser Überlegenheit und ohne Trotz verstummt er wo er schweigt. »Daß aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zu haben … Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend.«496 Wie weit von dem des tragischen Helden es entfernt war, konnte Platon nicht vielsagender bezeichnen, als indem er dem letzten Gespräch seines Lehrers zum Gegenstand die Unsterblichkeit gab. Wenn anders nach der »Apologie« der Tod des Sokrates noch tragisch hätte erscheinen können – verwandt dem schon durch einen allzu rationalen Pflichtbegriff erhellten der »Antigone« –, so zeigt die pythagoreische Stimmung des »Phaidon« dieses Sterben aller tragischen Bindung ledig. Sokrates sieht dem Tode ins Auge wie ein Sterblicher – wie der beste, der tugendhafteste der Sterblichen, wenn man will – aber er erkennt ihn als ein Fremdes, jenseits dessen, in der Unsterblichkeit, er sich wiederzufinden erwartet. Nicht so der tragische Held, der vor der Gewalt des Todes zurückschauert als vor der ihm vertrauten, eigenen und eingebannten. Sein Leben rollt ja aus dem Tode ab, der nicht sein Ende, sondern seine Form ist. Denn das tragische Dasein findet seine Aufgabe nur, weil die Grenzen, die des sprachlichen wie des leiblichen Lebens, von Anfang an ihm mitgegeben, in ihm selbst gesetzt sind. In den verschiedensten Formen hat man es ausgesprochen. Niemals vielleicht treffender als in einer beiläufigen Wendung, die den tragischen Tod »nur … das nach außen gelangte Zeichen, daß die Seele gestorben ist«,497 nennt. Ja der tragische Held, wenn man so will, ist seellos. Aus ungeheurer Leere tönt sein Inneres die fernen neuen Göttergeheiße wider und an diesem Echo erlernen kommende Generationen ihre Sprache. – Wie im alltäglichen Geschöpf das Leben, so wirkt im Helden um sich greifend ein Sterben, und die tragische Ironie entsteht jedesmal an der Stelle, wo er – mit tiefem Rechte, wovon er nichts ahnt – von den Umständen seines Unterganges als von solchen des Lebens zu reden beginnt. »Auch ist die Todesentschlossenheit der tragischen Menschen … nur scheinbar heroisch, nur für die menschlich-psychologische Betrachtung; die sterbenden Helden der Tragödie – so ungefähr schrieb es ein junger Tragiker – sind lange schon tot, ehe sie starben.«498 Der Held in seinem geist-leiblichen Dasein ist Rahmen des tragischen Vollzuges. Wenn wirklich die »Gewalt des Rahmens«, wie man es glücklich formulierte, ein Wesentliches unter den Stücken ist, die antike Lebensgesinnung von der modernen trennen, in welcher das unendliche und nuancierte Ausschwingen der Gefühle oder Situationen das Selbstverständliche zu sein scheint, so ist diese Gewalt von derjenigen der Tragödie selbst nicht zu trennen. »Nicht die Stärke sondern die Dauer des hohen Gefühles macht den hohen Menschen.« Gewährleistet ist diese monotone Dauer des heldischen Gefühls allein im vorgegebenen Rahmen seines Lebens. Das Orakel der Tragödie ist nicht magischer Schicksalszauber allein; es ist die nach außen verlegte Gewißheit, tragisches Leben sei nicht, es verliefe denn in seinem Rahmen. Notwendigkeit, wie sie im Rahmen festgelegt erscheint, ist nicht kausale noch auch magische. Es ist die sprachlose des Trotzes, in welchem das Selbst seine Äußerungen zutage fördert. Wie Schnee vor dem Südwind würde sie unterm Hauche des Wortes dahinschmelzen. Aber eines ungekannten allein. Der heroische Trotz enthält, in sich verschlossen, dieses ungekannte; das unterscheidet ihn von der Hybris eines Mannes, dem das voll entfaltete Bewußtsein der Gemeinschaft keinen verborgenen Gehalt mehr zuerkennt.

      Die Vorzeit allein konnte tragische Hybris kennen, welche mit dem Leben des Helden das Recht ihres Schweigens erkauft. Der Held, der es verschmäht vor den Göttern sich zu verantworten, kommt in einem gleichsam vertraglichen Sühneverfahren, welches seiner Doppelbedeutung nach nicht nur der Wiederherstellung, sondern vorab der Untergrabung