Nirgends ist zwar das Mythische der höchste Sachgehalt, überall aber ein strenger Hinweis auf diesen. Als solchen hat es Goethe zur Grundlage seines Romans gemacht. Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches: als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goetheschen Zeitalters erscheint sein Inhalt. Es liegt nahe, an eine so befremdende Auffassung dasjenige zu halten, was Goethe über sein Werk gedacht hat. Nicht als ob mit des Dichters Äußerungen der Kritik ihre Bahn vorgezeichnet sein müßte; doch je mehr sie sich von diesen entfernt, desto weniger wird sie der Aufgabe sich entziehen wollen, auch sie aus den gleichen verborgenen Ressorts wie das Werk zu verstehen. Das einzige Prinzip für ein solches Verständnis freilich kann darin nicht liegen. Biographisches nämlich, das in Kommentar und Kritik gar nicht eingeht, hat hier seine Stelle. Goethes Auslassungen über diese Dichtung sind mitbestimmt durch das Streben, zeitgenössischen Urteilen zu begegnen. Daher wäre ein Blick auf diese angezeigt, auch wenn nicht ein viel näheres Interesse, als dieser Hinweis es bezeichnet, die Betrachtung an sie weisen würde. Unter den Stimmen der Zeitgenossen wiegen wenig diejenigen – meist anonymer Beurteiler – die das Werk mit der konventionellen Achtung begrüßen, die schon damals jedem Goetheschen geschuldet wurde. Wichtig sind die ausgeprägten Sätze, wie sie unterm Namen einzelner hervorragender Berichterstatter erhalten sind. Sie sind darum nicht untypisch. Vielmehr gab es gerade unter ihren Schreibern am ersten solche, die das auszusprechen wagten, was Geringere nur aus Achtung vor dem Dichter nicht bekennen wollten. Dieser hat nichtsdestoweniger die Gesinnung seines Publikums gefühlt und aus bittrer, unverfälschter Rückerinnerung gemahnt er 1827 Zeltern, daß es, wie er sich wohl erinnern werde, gegen seine Wahlverwandtschaften sich »wie gegen das Kleid des Nessus gebärdet« habe. Kopfscheu, dumpf, wie geschlagen stand es vor einem Werke, in dem es nur die Hilfe aus den Wirrnissen des eignen Lebens suchen zu sollen meinte, ohne selbstlos in das Wesen eines fremden sich versenken zu wollen. Hierfür ist das Urteil in Frau von Staёls »De l’Allemagne« repräsentativ. Es lautet: »On ne saurait nier qu’il n’y ait dans ce livre … une profonde connaissance du coeur humain, mais une connaissance decourageante; la vie y est representee comme une chose assez indifferente, de quelque maniere qu’on la passe; triste quand on l’approfondit, assez agreable quand on l’esquive, susceptible de maladies morales qu’il faut guerir si l’on peut, et dont il faut mourir si l’on n’en peut guerir.« Nachdrücklicher scheint etwas Ähnliches mit Wielands lakonischer Wendung bezeichnet zu sein – sie ist einem Brief entnommen, dessen Adressatin unbekannt ist –: »ich gestehe Ihnen, meine Freundin, daß ich dieses wirklich schauerliche Werk nicht ohne warmen Anteil zu nehmen gelesen habe.« Die sachlichen Motive einer Ablehnung, die dem gemäßigten Befremden kaum bewußt sein mochten, treten kraß in dem Verdikt der kirchlichen Partei zutage. Den begabteren Fanatikern in ihr konnten die offenkundigen paganischen Tendenzen in dem Werke nicht entgehen. Denn wiewohl der Dichter jenen finstern Mächten alles Glück der Liebenden zum Opfer gab, vermißte ein untrüglicher Instinkt das Göttlich-Transzendente des Vollzugs. Konnte doch ihr Untergang in diesem Dasein nicht genügen – was verbürgte, daß sie in einem höheren nicht triumphierten? Ja schien nicht eben dies Goethe in den Schlußworten andeuten zu wollen? Eine »Himmelfahrt der bösen Lust« nennt daher F. H. Jacobi den Roman. In seiner evangelischen Kirchenzeitung gab Hengstenberg noch ein Jahr vor Goethes Tode wohl die breiteste Kritik von allen. Seine aufgestachelte Empfindung, welcher keinerlei Esprit zu Hilfe kommt, bot ein Muster hämischer Polemik dar. Weit jedoch bleibt dies alles hinter Werner zurück. Zacharias Werner, dem im Augenblick seiner Bekehrung am wenigsten der Spürsinn für die düstern Ritualtendenzen dieses Ablaufs fehlen konnte, sandte an Goethe – gleichzeitig mit der Nachricht von dieser – sein Sonett »Die Wahlverwandtschaften« – eine Prosa, der in Brief und Gedicht noch nach hundert Jahren der Expressionismus nichts Arrivierteres an die Seite zu setzen hätte. Spät genug merkte Goethe, woran er war und ließ dieses denkwürdige Schreiben den Schluß des Briefwechsels bilden. Das beiliegende Sonett lautet:
Die Wahlverwandtschaften
Vorbei an Gräbern und an Leichensteinen
Die schön vermummt die sichre Beut’ erwarten
Hin schlängelt sich der Weg nach Edens Garten
Wo Jordan sich und Acheron vereinen.
Erbaut auf Triebsand will getürmt erscheinen
Jerusalem; allein die gräßlich zarten
Meernixe, die sechstausend Jahr schon harrten.
Lechzen im See, durch Opfer sich zu reinen.
Da kommt ein heilig freches Kind gegangen,
Des Heiles Engel trägts, den Sohn der Sünden.
Der See schlingt alles! Weh uns! – Es war Scherz!
Will Helios die Erde denn entzünden?
Er glüht ja nur sie liebend zu umfangen!
Du darfst den Halbgott lieben. zitternd Herz!
Eins scheint gerade aus dergleichen tollem, würdelosen Lob und Tadel zu erhellen: daß der mythische Gehalt des Werkes den Zeitgenossen Goethes nicht der Einsicht, aber dem Gefühl nach gegenwärtig war. Dem ist heute anders, da die hundertjährige Tradition ihr Werk vollzogen und die Möglichkeit ursprünglicher Erkenntnis fast verschüttet hat. Wird doch, wenn ein Werk von Goethe heute seinen Leser fremd anmutet oder feindlich, bald benommenes Schweigen sich dessen bemächtigen und den wahren Eindruck ersticken. – Mit unverhohlener Freude begrüßte Goethe die beiden, die solchem Urteil entgegen, wenn auch schwächlich, sich hören ließen. Solger war der eine, Abeken der andere. Was die wohlmeinenden Worte des Letzteren betrifft, so ruhte Goethe nicht eher, bis die Form einer Kritik ihnen verliehen war, in der sie an sichtbarer Stelle erschienen. Denn in ihnen fand er das Humane betont, das die Dichtung so planvoll zur Schau stellt. Niemandem scheint es mehr den Blick auf den Grundgehalt getrübt zu haben, als Wilhelm von Humboldt: »Schicksal und innere Notwendigkeit vermisse ich vor allen Dingen darin« urteilt er seltsam genug.
Dem Streit der Meinungen nicht schweigend zufolgen, hatte Goethe einen doppelten Anlaß. Er hatte sein Werk zu verteidigen – das war der eine. Er hatte dessen Geheimnis zu wahren – das war der andere. Beide wirken zusammen, um seiner Erklärung einen ganz anderen Charakter zu geben als jenen der Deutung. Sie hat einen apologetischen und mystifizierenden Zug, welche sich trefflich in ihrem Hauptstück vereinigen. Man könnte es die Fabel von der Entsagung nennen. An ihr fand Goethe den gegebenen Halt, dem Wissen tiefem Zugang zu versagen. Zugleich war sie auch als Erwiderung auf so manchen philiströsen Angriff zu verwenden. So hat sie Goethe in dem Gespräch verlautbart. das durch Riemers Überlieferung fürder das traditionelle Bild von dem Roman bestimmte. Dort sagt er: der Kampf des Sittlichen mit der Neigung ist »hinter die Szene verlegt und man sieht, daß er vorgegangen sein müsse. Die Menschen betragen sich wie vornehme Leute, die bei allem innern Zwiespalt doch das äußere Decorum behaupten. – Der Kampf des Sittlichen eignet sich niemals zu einer ästhetischen Darstellung. Denn entweder siegt das Sittliche oder es wird überwunden. Im ersteren Falle weiß man nicht, was und warum es dargestellt worden; im andern ist es schmählich. das mit anzusehen; denn am Ende muß doch irgendein Moment dem Sinnlichen das Übergewicht über das Sittliche geben, und eben dieses Moment gibt der Zuschauer gerade nicht zu, sondern verlangt ein noch schlagenderes, das der Dritte immer wieder eludiert, je sittlicher er selbst ist. – In solchen Darstellungen muß stets das Sinnliche Herr werden; aber bestraft durch das Schicksal, d. h. durch die sittliche Natur, die sich durch den Tod ihre Freiheit salviert. – So muß der Werther sich erschießen, nachdem er die Sinnlichkeit Herr über sich werden lassen. So muß Ottilie χαρτερieren und Eduard desgleichen, nachdem sie ihrer Neigung freien Lauf gelassen. Nun feiert erst das Sittliche seinen Triumph.« Auf diese zweideutigen Sätze wie