Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
Dafür jedoch, daß Schlegel in der Athenäumszeit zu keiner vollen Klarheit über seine systematische Intention gelangen konnte, lassen sich mehrere Gründe namhaft machen. Die systematischen Gedanken besaßen damals nicht die Vorherrschaft in seinem Geiste, und dies hängt einerseits damit zusammen, daß er nicht genügend logische Kraft besaß, um sie aus seinem damals noch reichen und leidenschaftlichen Denken herauszuarbeiten, andererseits damit, daß er kein Verständnis für den Systemwert der Ethik hatte. Das ästhetische Interesse überwog alles. »Friedrich Schlegel war ein Künstler-Philosoph, oder ein philosophierender Künstler, als solcher ging er einerseits den Traditionen der philosophischen Zünftler nach und suchte Zusammenhang mit der Philosophie seiner Zeit, andererseits war er zu sehr Künstler, um beim rein Systematischen stehen zu bleiben.«90 Bei Schlegel tritt, um auf den obigen Vergleich zurückzukommen, das Gradnetz seiner Gedanken unter der überdeckenden Zeichnung fast nie hervor. Wenn die Kunst als das absolute Reflexionsmedium die systematische Grundkonzeption der Athenäumszeit ist, so findet sich diese fortwährend durch andere Bezeichnungen substituiert, die den Anschein der verwirrenden Vielgestaltigkeit seines Denkens hervorrufen. Das Absolute erscheint bald als Bildung, bald als Harmonie, als Genie oder Ironie, als Religion, Organisation oder Geschichte. Und es soll gar nicht geleugnet werden, daß in anderen Zusammenhängen es wohl denkbar wäre, eine der anderen Bestimmungen – also nicht die Kunst, sondern etwa die Geschichte – jenem Absoluten, wofern nur sein Charakter als Reflexionsmedium gewahrt bliebe, einzuzeichnen. Unstreitig aber lassen die meisten dieser Bezeichnungen gerade jene philosophische Fruchtbarkeit vermissen, die in der Analyse des Begriffs der Kunstkritik für die Bestimmung des Reflexionsmediums als Kunst aufgewiesen werden soll. Der Begriff der Kunst ist in der Athenäumszeit eine – und außer dem der Geschichte vielleicht die einzige – legitime Erfüllung der systematischen Intention Friedrich Schlegels.91 Eine seiner typischen Verschiebungen und Überdeckungen möge hier, wenn auch vorgreifend, ihre Stelle finden: »Die Kunst, aus dem Impulse der strebenden Geistigkeit gestaltend, bindet diese in immer wieder neuen Formen mit dem Geschehen des gesamten Lebens der Gegenwart und der Vergangenheit. Die Kunst heftet sich nicht an einzelne Geschehnisse der Geschichte, sondern an deren Gesamtheit; vom Gesichtspunkt der sich ewig vervollkommnenden Menschheit aus, faßt sie den Komplex der Geschehnisse vereinheitlichend und veranschaulichend zusammen. Die Kritik … sucht das Menschheitsideal aufrechtzuerhalten, indem sie … auf dasjenige Gesetz hinausgeht, das sich an frühere Gesetze knüpfend, die Annäherung an das ewige Menschheitsideal verbürgt«.92 Dies ist eine Paraphrase des Gedankens in der Condorçet-Kritik des frühen Schlegel (1795). In den Schriften um 1800 nehmen, wie sich noch ergeben wird, derartige Amalgamierungen und gegenseitige Trübungen mehrerer Begriffe des Absolutums, die in solcher Vermischung ihre Fruchtbarkeit selbstverständlich einbüßen, überhand. Wer nach solchen Sätzen sich ein Bild vom tieferen Wesen der Schlegelschen Kunstauffassung machen wollte, müßte notwendig irren.
Schlegels vielfältige Bestimmungsversuche des Absoluten entspringen nicht allein aus einem Mangel, nicht nur aus Unklarheit. Ihnen liegt vielmehr eine eigentümliche positive Tendenz seines Denkens zugrunde. In ihr findet die oben gestellte Frage nach dem Grunde der Dunkelheit so vieler Schlegelscher Fragmente und gerade ihrer systematischen Intentionen ihre Antwort. Das Absolute war für Friedrich Schlegel in der Athenäumszeit allerdings das System in der Gestalt der Kunst. Aber er suchte dies Absolute nicht systematisch, sondern vielmehr umgekehrt das System absolut zu erfassen. Dies war das Wesen seiner Mystik, und obwohl er sie im Grunde bejahte, blieb ihm das Verhängnisvolle dieses Versuches nicht verborgen. Von Jacobi – daß Schlegel sich nicht selten gegen Jacobi wandte, um öffentlich eigene Fehler zu geißeln, hat Enders gezeigt – heißt es in den Windischmannschen Fragmenten: »Jacobi ist zwischen die absolute Philosophie geraten und zwischen die systematische, und da ist sein Geist zuschanden gequetscht«,93 eine Bemerkung, die etwas boshafter pointiert auch in den Athenäumsfragmenten94 Platz gefunden hat. Auch Schlegel selbst vermochte nicht, den mystischen Impuls absoluter Erfassung des Systems, den »alten Hang zum Mystizismus«95 von sich fernzuhalten. Das Gegenteil macht er Kant zum Vorwurf: »Er polemisiert … gar nicht die transzendente Vernunft, sondern die absolute – oder auch wohl die systematische«.96 Unübertrefflich charakterisiert er diese Idee absoluten Erfassens des Systems mit der Frage: »Sind nicht alle Systeme Individuen …?«97 Denn freilich, wenn dies der Fall wäre, so könnte man daran denken, Systeme ebenso intuitiv in ihrer Ganzheit zu durchdringen wie eine Individualität. Schlegel ist sich denn auch über die extreme Folgerung der Mystik im klaren gewesen: