Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
Die Not, die hier verkleidet wird, ist nicht nur eine materielle; sie betrifft die poetische Produktion. Die Stereotypien in Baudelaires Erfahrungen, der Mangel an Vermittlung zwischen seinen Ideen, die erstarrte Unruhe in seinen Zügen deuten darauf hin, daß die Reserven, die großes Wissen und umfassender geschichtlicher Überblick dem Menschen eröffnen, ihm nicht zu Gebote standen. »Baudelaire hatte für einen Schriftsteller einen großen Fehler, von dem er selbst nichts ahnte: er war unwissend. Was er wußte, das wußte er gründlich; aber er wußte Weniges. Geschichte, Physiologie, Archäologie, Philosophie blieben ihm fremd … Die Außenwelt interessierte ihn wenig; er bemerkte sie vielleicht, aber jedenfalls studierte er sie nicht.«1030 Es ist zwar naheliegend und auch berechtigt, solchen und ähnlichen Kritiken1031 gegenüber auf die notwendige und nützliche Unzugänglichkeit des Arbeitenden, die in aller Produktion unerläßlichen idiosynkratischen Einschläge hinzuweisen; aber der Sachverhalt hat eine andere Seite. Er begünstigt die Überforderung des Produzierenden im Namen eines Prinzips, des ›Schöpferischen‹. Diese ist um so gefährlicher als sie, dem Selbstgefühl des Produzierenden schmeichelnd, die Interessen einer ihm feindseligen Gesellschaftsordnung vorzüglich wahrt. Die Lebensweise der Bohémiens hat dazu beigetragen, einen Aberglauben an das Schöpferische in Kurs zu setzen, dem Marx mit einer Feststellung begegnet, die für geistige genau wie für manuelle Arbeit gilt. Zum ersten Satz des Gothaer Programmentwurfs, »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur«, vermerkt er kritisch: »Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn gerade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein anderes Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben.«1032 Wenig von dem, was zu den gegenständlichen Bedingungen geistiger Arbeit gehört, hat Baudelaire besessen: von einer Bibliothek bis zu einer Wohnung gab es nichts, worauf er im Laufe seines Daseins, das gleich unstet in wie außerhalb von Paris verlief, nicht hätte verzichten müssen. »Physische Leiden«, schreibt er am 26. Dezember 1853 an seine Mutter, »bin ich in dem Grade gewohnt, ich verstehe so gut, mir unter einer zerrissenen Hose und einer Jacke, durch die der Wind streicht, mit zwei Hemden auszuhelfen, und ich bin so geübt, mich bei durchlöcherten Schuhen mit Stroh oder selbst Papier einzurichten, daß ich fast nur noch moralische Leiden als solche fühle. Immerhin muß ich offen sagen, daß ich nun soweit bin, aus Furcht, meine Sachen noch mehr zu zerreißen, keine sehr plötzlichen Bewegungen mehr zu machen und nicht mehr viel zu gehen.«1033 Von der Art waren unter den Erfahrungen, die Baudelaire im Bilde des Heros verklärt hat, die unzweideutigsten.
Der Depossedierte taucht unter dem Bild des Heros um diese Zeit noch an anderer Stelle auf; und zwar ironisch. Das ist der Fall bei Marx. Er spricht von den Ideen des ersten Napoleons und sagt: »Der Kulminierpunkt der ›idées napoleoniennes‹ … ist das Übergewicht der Armee. Die Armee war der point d’honneur der Parzellenbauern, sie selbst in Heroen verwandelt.« Nun aber, unter dem dritten Napoleon, ist die Armee »nicht mehr die Blüte der Bauernjugend, sie ist die Sumpfblume des bäuerlichen Lumpenproletariats. Sie besteht großenteils aus Remplaçants …, wie der zweite Bonaparte selbst nur Remplaçant, der Ersatzmann für Napoleon ist.«1034 Der Blick, der sich von dieser Ansicht zum Bilde des fechtenden Dichters zurückwendet, findet es sekundenlang von dem des Marodeurs überblendet, des anders ›fechtenden‹ Söldners, der durch die Gegend irrt1035. Vor allem aber klingen zwei berühmte Zeilen Baudelaires mit ihrer unauffälligen Synkope deutlicher über dem gesellschaftlichen Hohlraum wider, von dem Marx spricht. Sie beschließen die zweite Strophe des dritten Gedichtes der »Petites vieilles«. Proust begleitet sie mit den Worten, »il semble impossible d’aller au delà«1036.
Ah! que j’en ai suivi, de ces petites vieilles!
Une, entre autres, à l’heure où le soleil tombant
Ensanglante le ciel de blessures vermeilles,
Pensive, s’asseyait à l’écart sur un banc,
Pour entendre un de ces concerts, riches de cuivre,
Dont les soldats parfois inondent nos jardins,
Et qui, dans ces soirs d’or où l’on se sent revivre,
Versent quelque héroïsme au cœur des citadins. 1037
Die mit den Söhnen verarmter Bauern besetzten Blechkapellen, die ihre Weisen für die arme Stadtbevölkerung ertönen lassen – sie geben den Heroismus ab, der in dem Wort quelque seine Fadenscheinigkeit scheu verbirgt und eben in dieser Geberde echt und der einzige ist, der von dieser Gesellschaft noch hervorgebracht wird. In der Brust ihrer Heroen wohnt kein Gefühl, das in der der kleinen Leute nicht Platz hätte, die sich um eine Militärmusik ansammeln.
Die Gärten, von denen in dem Gedicht als von ›den unsrigen‹ die Rede ist, sind die dem Städter geöffneten, dessen Sehnsucht vergebens um die großen verschlossenen Parks streift. Das Publikum, das sich in ihnen einfindet, ist nicht ganz das den Flaneur umwogende. »Zu welcher Partei man immer gehören mag«, schrieb Baudelaire 1851, »es ist unmöglich, nicht von dem Schauspiel dieser kränklichen Bevölkerung ergriffen zu werden, die den Staub der Fabriken schluckt, Baumwollpartikeln einatmet, ihre Gewebe von Bleiweiß und Quecksilber und von allen Giften durchdringen läßt, die zur Herstellung von Meisterwerken gebraucht werden … Diese Bevölkerung verzehrt sich nach den Wundern, auf die ihr doch die Erde ein Anrecht gibt; sie fühlt purpurnes Blut in ihren Adern wallen, und sie wirft einen langen von Trauer beschwerten Blick auf das Sonnenlicht und die Schatten in den großen Parks.«1038 Diese Bevölkerung ist der Hintergrund, von dem sich der Umriß des Heros abhebt. Das Bild, welches sich so darstellt, beschriftete Baudelaire auf seine eigene Weise. Er setzte das Wort la modernité darunter.
Der Heros ist das wahre Subjekt der modernité. Das will besagen – um die Moderne zu leben, bedarf es einer heroischen Verfassung. Das war auch die Meinung Balzacs gewesen. Balzac und Baudelaire stehen mit ihr zur Romantik in Gegensatz. Sie verklären die Leidenschaften und die Entschlußkraft; die Romantik den Verzicht und die Hingabe. Aber die neue Anschauungsweise ist ungleich vielmaschiger, ungleich reicher an Vorbehalten bei dem Lyriker als bei dem Romancier. Zwei Redefiguren zeigen, auf welche Art. Beide stellen den Heros in seiner modernen Erscheinung dem Leser vor. Bei Balzac wird der Gladiator zum commis voyageur. Der große Geschäftsreisende Gaudissart bereitet sich darauf vor, die Touraine zu bearbeiten. Balzac schildert seine Veranstaltungen und unterbricht sich, um auszurufen: »Welch ein Athlet! welche Arena! und was für Waffen: er, die Welt und sein Mundwerk!«1039 Baudelaire dagegen erkennt den Fechtersklaven im Proletarier wieder; unter den Versprechungen, die der Wein dem Enterbten zu vergeben hat, nennt die fünfte Strophe des Gedichts »L’âme du vin«:
J’allumerai les yeux de ta femme ravie;
A ton fils je rendrai sa force et ses couleurs
Et serai pour ce frêle athlète de la vie
L’huile qui raffermit les muscles des lutteurs. 1040
Was der Lohnarbeiter in täglicher Arbeit leistet, ist nichts Geringeres als was im Altertum dem Gladiator zu Beifall und Ruhm verhalf. Dieses Bild ist Stoff vom Stoffe der besten Erkenntnisse, die Baudelaire geworden sind; es stammt aus dem Nachdenken über seine eigene Lage. Eine Stelle aus dem »Salon de 1859« ergibt, wie er sie angesehen wissen wollte. »Wenn ich höre, wie ein Raphael oder Veronese mit der verschleierten Absicht glorifiziert werden, was nach ihnen gekommen ist zu entwerten …, so frage ich mich, ob eine Leistung, die als solche der ihrigen mindestens gleichzusetzen ist …, nicht unendlich viel verdienstlicher als die ihre ist, da sie sich in einer Atmosphäre und in einem Landstrich