Название | Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke |
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Автор произведения | Walter Benjamin |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9789176377444 |
Es gibt eine Lithographie von Senefelder, die einen Spielklub darstellt. Nicht einer der auf ihr Abgebildeten geht in der üblichen Weise dem Spiele nach. Jeder ist von seinem Affekt besessen; einer von ausgelassener Freude, ein anderer von Mißtrauen gegen den Partner, ein dritter von dumpfer Verzweiflung, ein vierter von Streitsucht; einer macht Anstalten, um aus der Welt zu gehen. Dies Blatt erinnert in seiner Extravaganz an Poe. Allerdings ist Poes Vorwurf größer, und dem entsprechen auch seine Mittel. Sein Meisterzug in dieser Schilderung besteht darin, daß er die hoffnungslose Isoliertheit der Menschen in ihrem Privatinteresse nicht, wie Senefelder, in der Verschiedenheit ihres Gebarens sondern in ungereimten Gleichförmigkeiten, sei es ihrer Kleidung, sei es ihres Benehmens zum Ausdruck bringt. Die Servilität, mit der sich die die Püffe einstecken, obendrein noch entschuldigen, läßt erkennen, woher die Mittel, welche Poe an dieser Stelle einsetzt, stammen. Sie stammen aus dem Repertoire der Klowns. Und er verwendet sie ähnlich wie das später durch die Exzentriks geschehen ist. Bei den Leistungen des Exzentriks ist eine Beziehung auf die Ökonomie offenkundig. In seinen abrupten Bewegungen imitiert er ebensogut die Maschinerie, welche der Materie, wie die Konjunktur, welche der Ware ihre Stöße versetzt. Eine ähnliche Mimesis der »fieberhaften … Bewegung der materiellen Produktion« nebst der ihr zugehörigen Geschäftsformen vollziehen die Teilchen der bei Poe geschilderten Menge. Was der Luna-Park, der den kleinen Mann zum Exzentrik macht, später in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zustande brachte, das ist in der Beschreibung von Poe vorgebildet. Die Leute verhalten sich bei ihm so als wenn sie nur noch reflektorisch sich äußern könnten. Dies Treiben wirkt noch entmenschter dadurch, daß bei Poe nur Menschen in Rede stehen. Wenn die Menge sich staut, so ist es nicht, weil der Wagenverkehr sie aufhält – er ist nirgends mit einem Wort erwähnt – sondern weil sie durch andere Mengen blockiert wird. In einer Masse von solcher Beschaffenheit konnte die Flanerie keine Blüten treiben.
In Baudelaires Paris war es noch nicht an dem. Noch gab es Fähren, die dort wo später Brücken sich befanden, die Seine querten. Noch konnte, in Baudelaires Todesjahr, ein Unternehmer auf den Gedanken kommen, zur Bequemlichkeit bemittelter Einwohner fünfhundert Sänften zirkulieren zu lassen. Noch waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fußgänger als Konkurrenten nicht gelten läßt. Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt; doch gab es auch noch den Flaneur, welcher Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Müßig geht er als eine Persönlichkeit; so protestiert er gegen die Arbeitsteilung, die die Leute zu Spezialisten macht. Ebenso protestiert er gegen deren Betriebsamkeit. Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließ sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort sondern Taylor, der das ›Nieder mit der Flanerie‹ zur Parole machte986. Mancher suchte sich beizeiten ein Bild von dem zu machen, was kommen sollte. »Der Flaneur«, schreibt Rattier 1857 in seiner Utopie »Paris n’existe pas«, »den man auf dem Pflaster und vor den Auslagen angetroffen hat, dieser nichtige, unbedeutende, ewig schaulustige Typ, der immer auf Sechser-Emotionen aus war und von nichts wußte als von Steinen, Fiakern und Gaslaternen … der ist nun Ackerbauer, Winzer, Leinenfabrikant, Zuckerraffineur, Eisenindustrieller geworden.«987
Auf seinen Irrfahrten landet der Mann der Menge spät in einem noch viel besuchten Kaufhaus. Er bewegt sich darin wie ein Kundiger. Gab es vielstöckige Warenhäuser zur Zeit von Poe? Wie dem auch sei, Poe läßt den Ruhelosen »etwa anderthalb Stunden« in diesem Kaufhause zubringen. »Er ging von einem Rayon zum andern, ohne etwas zu kaufen noch auch zu sprechen; wie abwesend starrte er auf die Waren.«988 Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische. Es ist ein großartiger Zug in Poes Erzählung, daß sie der frühesten Schilderung des Flaneurs die Figur seines Endes einbeschreibt.
Jules Laforgue hat von Baudelaire gesagt, als erster habe von Paris er »als ein tagtäglich zur hauptstädtischen Existenz Verdammter«989 gesprochen. Er hätte sagen können, als erster er habe auch von dem Opiat gesprochen, das diesen – und nur diesen – Verdammten zur Erleichterung gegeben ist. Die Menge ist nicht nur das neueste Asyl des Geächteten; sie ist auch das neueste Rauschmittel des Preisgegebenen. Der Flaneur ist ein Preisgegebener in der Menge. Damit teilt er die Situation der Ware. Diese Besonderheit ist ihm nicht bewußt. Sie wirkt aber darum auf ihn nicht weniger. Sie durchdringt ihn beseligend wie ein Rauschgift, das ihn für viele Demütigungen entschädigen kann. Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt, ist der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware.
Gäbe es jene Warenseele, von welcher Marx gelegentlich im Scherz spricht990, so wäre sie die einfühlsamste, die im Seelenreiche je begegnet ist. Denn sie müßte in jedem den Käufer sehen, in dessen Hand und Haus sie sich schmiegen will. Einfühlung ist aber die Natur des Rausches, dem der Flaneur in der Menge sich überläßt. »Der Dichter genießt das unvergleichliche Privileg, daß er nach Gutdünken er selbst und ein anderer sein kann. Wie irrende Seelen, die einen Körper suchen, so tritt er, wann er will, in die Person eines anderen ein. Ihm steht die eines jeglichen frei und offen; wenn ihm gewisse Plätze verschlossen scheinen, so ist es, weil sie in seinen Augen der Mühe wert nicht sind, inspiziert zu werden.«991 Was hier spricht, ist die Ware selbst. Ja, die letzten Worte geben einen ziemlich genauen Begriff von dem, was sie dem armen Schlucker zumurmelt, der an einer Auslage mit schönen und teuren Sachen vorbeikommt. Sie wollen nichts von ihm wissen; in ihn fühlen sie sich nicht ein. In den Sätzen des bedeutsamen Stücks »Les foules« spricht mit andern Worten der Fetisch selbst, mit dem Baudelaires sensitive Anlage so gewaltig mitschwingt, daß die Einfühlung in das Anorganische eine der Quellen seiner Inspiration gewesen ist992.
Baudelaire war ein Kenner der Rauschmittel. Dennoch ist ihm eine ihrer sozial erheblichsten Wirkungen wohl entgangen. Sie besteht in dem Charme, den die Süchtigen unterm Einfluß der Droge an den Tag legen. Den gleichen Effekt gewinnt ihrerseits die Ware der sie berauschenden, sie umrauschenden Menge ab. Die Massierung der Kunden, die den Markt, der die Ware zur Ware macht, eigentlich bildet, steigert deren Charme für den Durchschnittskäufer. Wenn Baudelaire von einem »religiösen Rauschzustand der Großstädte«993 spricht, so dürfte dessen ungenannt gebliebenes Subjekt die Ware sein. Und die »heilige Prostitution der Seele«, mit der verglichen »das, was die Menschen Liebe nennen, recht klein, recht beschränkt und recht schwächlich«994 sein soll, kann, wenn die Konfrontation mit der Liebe ihren Sinn behält, wirklich nichts anderes sein als die Prostitution der Warenseele. »Cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe«995, sagt Baudelaire. Genau diese poésie und genau diese charité ist es, welche die Prostituierten für sich in Anspruch nehmen. Sie hatten die Geheimnisse des offenen