Die Familie Lüderitz. Paul Enck

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Название Die Familie Lüderitz
Автор произведения Paul Enck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783873222984



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Jahr 1882. Hierbei lernten wir – zumindest die Nicht-Historiker – zum ersten Mal den Nutzen der historischen Adressbücher kennen, zumal sie, wie in Berlin, seit 1819 Jahr für Jahr herausgegeben wurden und inzwischen alle digital zur Verfügung stehen.

      Carl war ab 1882 schnell und mit fast jährlich wechselnden Adressen im Süden der Stadt gefunden, bis er 1890 am Mariannenplatz 8 im Stadtteil Luisenstadt (heute: Kreuzberg) eine dauerhafte Bleibe für seine Praxis fand. Hier blieb er bis 1907 als „Lüderitz, C., Dr. med., prakt. Arzt etc., SO Mariannenplatz 8, 8 - 9, 4 - 5“. Letztere Angaben, so der Eintrag im Adressbuch von Berlin, bezogen sich auf die täglichen Sprechzeiten.

      1_5_neuBild 1-3: Wohnung und Praxis (Grundriss) am Mariannenplatz 8, Erdgeschoss aus dem Jahr 1864; (Abdruck mit freudlicher Genehmigung der Bauaktenkammer Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, Berlin vom 19.10.2020). Die Aufteilung der Räumlichkeiten in Praxis, Privat- und Personalbereich ist natürlich hypothetisch.

      Das Haus gehörte zeitweilig zum Diakonissenhaus Bethanien, das gegenüber der Praxis ein Krankenhaus betrieb.

      In den ersten zehn Jahren seiner Berliner Zeit finden wir Carl gelegentlich als Vortragenden und Zuhörer auf wissenschaftlichen Kongressen in Berlin. Immerhin wurde er auf einer Sitzung der „Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Classe von 1889“ – wobei es um Untersuchungen über die Zersetzung von Eiweiß durch anaerobe Spaltpilze ging – von Marcel Nencki (1847 – 1901) ausdrücklich erwähnt. Der polnische Chemiker und Arzt, der zu dieser Zeit im schweizerischen Bern forschte, dankte ihm für die Überlassung der Bakterienstämme, die Carl entdeckt hatte. Einige dieser zu den Clostridien zählenden Bakterienstämme (Bact.liquefaciens-parvus, B.radiatus, B.solidus, B.spinosus) waren seinerzeit mit der Namenserweiterung Lüderitzii versehen.

      Nach 1892 endete Carls Engagement in der Wissenschaft abrupt, vollständig und endgültig. Wir können nur mutmaßen, dass er sich zehn Jahre Zeit gegeben hatte, um eine akademische Position zu erlangen. Vermutlich hat er deswegen „gratis“ an den universitären Instituten gearbeitet, sich möglicherweise auch Laborzugang und -zeit erkauft in der Hoffnung, mit solchen Vorleistungen eine Chance zu bekommen. Warum es am Ende nicht geklappt hat, kann auch nur vermutet werden.

      Hier ein paar Ideen:

       Er hätte mit Nothnagel nach Wien gehen sollen, aber er wollte nach Berlin zu seiner Familie.

       Er hätte nach Wien gewollt, aber Nothnagel konnte ihn nicht mitnehmen.

       Er hätte mehr und früher experimentieren und schreiben müssen, um den Erwartungen gerecht zu werden, aber er musste seinen Lebensunterhalt verdienen.

       Er war am Ende doch mehr Arzt als Wissenschaftler, wollte Patienten sehen und nicht Labortiere.

       Er war seinem großen Vorbild Nothnagel nicht gewachsen und hat dies eingesehen.

       Es steckte am Ende gar eine Frau dahinter, dass er zurück nach Berlin gehen wollte.

       Es könnte sein, dass ihm schon zu der Zeit bewusst war, dass der ehrenvolle Titel eines „Sanitätsrathes“ Publikationen voraussetzte und seine Veröffentlichungen diesem Zwecke dienten.

      Die Überraschung kam diesmal nicht beim systematischen Suchen, sondern beim Surfen im Netz. Irgendwann tauchte der Name „Carl Lüderitz“ nicht nur im Einwohner- und Straßenverzeichnis der Berliner Adressbücher auf, sondern auch auf den amtlichen Seiten. Dort fanden wir „Dr. med. Carl Lüderitz“ als amtlich bestellten Armenarzt, und das nicht nur in einem Jahr, sondern fast in seiner gesamten Berliner Zeit von 1883 bis 1903. Er war auch als Säuglingsarzt registriert und Vertreter der Ärzteschaft in der Armenkommission, die die Aufgaben der Armenärzte und deren Verteilung regelte. Die Armenärzte waren in einem Verein organisiert, der sich um ihre Belange kümmerte (7).

      Armenarzt_regionBild 1-4: Die zu den Armenarzt-Bezirken Nr. 84, 93-97 in der Luisenstadt („jenseits des Kanals“) des Dr. Carl Lüderitz im Jahr 1890 gehörenden Straßenzüge (rechts) zwischen Mariannenplatz (Praxis: blauer Punkt) und Görlitzer Bahnhof, projiziert auf einen Stadtplan von 1893 (Quelle: Beilage zum Berliner Adressbuch, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-2482696)

      Berlin hatte 1885 etwa 1,3 Millionen Einwohner. Die Stadt war unterteilt in 326 Armenarzt-Bezirke in den verschiedenen Stadtteilen, die von insgesamt 63 Armenärzten betreut wurden. Hinzu kam eine Reihe von Spezialärzten (Augenärzte, Kinderärzte), die nur gelegentlich konsultiert wurden. Diese Armenarzt-Bezirke hatten unterschiedliche Einwohnerzahlen, je nach Dichte der armen Bevölkerung. Im Norden war diese größer als im Süden der Stadt. In Moabit und Wedding beispielsweise war ein Armenarzt für etwa 10.000 Einwohner zuständig. In der Luisenstadt, dem heutigen Kreuzberg, oder im Bezirk Friedrichstadt, der heutigen „Mitte“, entfielen bis zu 50.000 Einwohner auf einen Armenarzt. Im Mittel waren es, wie bei Carl, etwa 20.000 Menschen. Insgesamt gab es – ausweislich der Sozialstatistik jener Jahre – etwa 45.000 „Hausarme“ (3,8 % der Bevölkerung; 1878 waren es noch 35.000 gewesen), die von den Armenärzten betreut wurden. Nicht mitgerechnet waren die in Armenhäusern lebenden Personen. Damit entfielen auf jeden Armenarzt im Mittel etwa 700 Patienten. Carls Revier waren 1885 und in den nachfolgenden Jahren die Bezirke 84 und 93–97 mit insgesamt 19.800 Einwohnern (–> Bild 1-4).

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      Ein Armenarzt behandelte üblicherweise Prostituierte, von denen es in Berlin um 1900 ca. 20.000 gab, an Sommerdiarrhöe leidende Kinder infolge verdorbener Milch, Waisenhaus-Pfleglinge, Leiden aufgrund schlechter Luft oder Schimmelpilzbildung in überhitzten Mietskasernen, Schwindsüchtige und Geschlechtskranke. Zu seinen Patienten zählten aber auch Obdachlose, Arbeitslose und generell Menschen ohne Krankenversicherung (Anfang 1900 noch 85 % der Bevölkerung). Er war zuständig für deren Medikamentenverordnungen, Krankschreibungen und Krankenhauseinweisungen. Dazu mussten Armenärzte eine morgendliche Sprechstunde, üblich von 8.00 bis 9.00 Uhr, einrichten und für Patienten ansprechbar sein. Darüber hinaus hatte der Armenarzt Ratgeberfunktion in Sachen Hygiene und Krankmeldungen; damit verbunden war eine Überwachungsaufgabe mit entsprechender Meldepflicht. Ein Armenarzt wurde – laut Ausschreibung der Stelle im Gemeindeblatt und Bewerbung durch den Arzt – von der Armenverwaltung des jeweiligen Bezirks eingestellt und erhielt ein Einkommen. Die Amtszeit eines Armenarztes betrug in der Regel drei Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Manche waren wie Carl 20 Jahre und länger als Armenarzt tätig, andere sind nach nur einem Jahr ausgestiegen. Die Ausgaben für Gehälter aller Armenärzte betrugen in Berlin für das Jahr 1888 insgesamt 82.290 RM (8). Sowohl das Budget als auch die Anzahl der Armenärzte war zwei Jahre zuvor (1886) erhöht worden. Aus diesem Budget wurden 1885 bis 1888 die 63 Armenärzte bezahlt, d. h. deren Jahresgehalt betrug um die 1300 RM. Dies entsprach dem Durchschnittsgehalt eines technischen Angestellten in der Industrie und war dem eines angestellten Arztes durchaus gleichwertig. Die mehr als 100 Ärzte des Gewerkschaftskrankenvereins erhielten als Durchschnittsgehalt 1400 Mark, Berufsanfänger aber deutlich weniger. Nach anderen Quellen lag das Anfangsgehalt eines Assistenzarztes mit 1200 Mark deutlich unter dem des Armenarztes (9). Davon konnte ein Mensch zu jener Zeit offenbar leben, wahrscheinlich sogar eine Familie gründen und ernähren.

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      Ob sich Carls Situation verbesserte, als er am 18. Dezember 1899 zum Sanitätsrat ernannt wurde, wissen wir nicht. Sicher half es ihm, Privatliquidationen zu erzielen. Der nichtakademische Titel wurde vom preußischen Gesundheitsministerium (korrekt: Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten) für mindestens 20-jährige Verdienste im öffentlichen Gesundheitswesen verliehen.

      Die Akte des Ministeriums