Die Familie Lüderitz. Paul Enck

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Название Die Familie Lüderitz
Автор произведения Paul Enck
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783873222984



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Rede“ zum Reformationsfest, wie die Schulchronik vermerkt. Einer späteren (1910) eigenen Aussage zufolge (2) hätte er gern ein künstlerisch-musisches Fach studiert. Aus der gleichen Quelle wissen wir, dass er leidlich Klavier spielte und durchaus ein Händchen für das Zeichnen hatte, wenngleich nicht das Talent seiner Schwester Elisabeth. Aber sein Vetter Hermann Noth­nagel, sein großes akademisches Vorbild, hatte ihn letztendlich davon überzeugt, Medizin zu studieren.

      Am 6. April 1872 schrieb sich Carl an der 1809 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin ein. Zwei Jahre später wechselte er nach Jena, wohin sein Vetter Hermann auf den Lehrstuhl für Physiologie berufen worden war. Zwischen den ersten zwei Semestern in Berlin und der Fortsetzung des Studiums in Jena unternahm Carl eine Reise durch den Harz (–> Kapitel 13).

      Seine Familie muss ihn finanziell unterstützt haben, da für Studium, Promotion und Habilitation laut Statut der Universität Jena von 1883 Gebühren zu entrichten waren. Das Studium der Medizin in Jena kostete bei Erstimmatrikulation 21 Mark und 15 Mark für Veteranen (ehemalige Soldaten der Einigungskriege). Das Geld wurde verwendet für: Universitätshaupthalle, Philosophische Fakultät, Bibliothek, Kollegienkirche, Landkrankenhaus, Kollegienhauskasse. Darüber hinaus mussten einige Lehrveranstaltungen als Honorar für den Professor bezahlt werden. Auch die Promotion mit einer klinischen Arbeit über die progressive Muskelatro­phie (3) zum Doktor der Medizin und Chirurgie am 25. April 1876 kostete mehrere hundert Mark (von der Kaufkraft her etwa 1600 Euro nach heutigem Wert). Die anschließende Habilitation war ebenfalls mit nicht näher bezeichneten Kosten verbunden.

      Folgende Lehrveranstaltungen mussten an der Universität Jena im Fach Medizin belegt werden: Enzyklopädie und Methodologie, Naturgeschichte und Botanik, Chemie und Pharmazie, Anatomie, Physiologie und Anthropologie, Psychologie, Geschichte der Medizin.

      Vorlesungen über die medizinischen Wissenschaften waren: Allgemeine und besondere Pathologie, Semiotik, Arzneimittellehre, Formulare, allgemeine und besondere Therapie, Chirurgie, Verbandslehre, Ophthalmologie, Entbindungskunst, Klinik, Tierarzneikunde, Staatsarzneikunde.

      Carl richtete am 17. Mai 1880 an die Medizinische Fakultät in Jena das Gesuch, sich als Privatdozent für das Fach Innere Medizin habilitieren zu dürfen. Der Anatom Wilhelm Müller (1832 – 1909) erstellte das positive Gutachten zur Habilitationsschrift. Die öffentliche Verteidigung erfolgte zur Zufriedenheit der Fakultät am 11. Juni 1880. Mit Schreiben des Großherzoglich Sächsischen Staatsministeriums wurde am 29. Juni 1880 die Genehmigung der Habilitation an der Medizinischen Fakultät für das Fach Innere Medizin erteilt. Vom Wintersemester 1880/81 bis einschließlich Wintersemester 1881/82 hielt Carl als Privatdozent Lehrveranstaltungen ab. Im Jahre 1882 verließ Carl Jena und ging zurück nach Berlin, als auch Nothnagel Jena den Rücken kehrte, um einen Ruf in Wien anzunehmen.

      Militärdienst und ärztliche Ausbildung

      Bevor wir Carl nach Berlin folgen, ein paar Anmerkungen zum Militärdienst und zur klinischen ärztlichen Ausbildung, wie sie 1882 und sicherlich nicht nur in Jena üblich waren.

      Im Jahr 1877 betrug die Wehrpflicht in der Regel drei Jahre. Als Einjährig-Freiwilliger war seine Pflichtzeit auf ein Jahr begrenzt. Carl meldete sich nach dem Staatsexamen zum Militärdienst. In seinem kurzen Lebenslauf am Ende der Habilitation (4) erwähnte er, dass er „ein Jahr hindurch seinen militairischen Pflichten Genüge geleistet“ habe. Die Einjährig-Freiwillige Militärzeit setzte ausreichende Geldmittel voraus, da Unterkunft und Ausstattung selbst finanziert werden mussten. Darüber hinaus musste der Anwärter die Mittlere Reife (Sekundarreife) an einem Gymnasium oder einer Mittelschule erworben haben. Aus diesem Grund wurde das Examen der Mittleren Reife lange Zeit als „das Einjährige“ bezeichnet.

      Als Freiwilliger konnte man sich die Waffengattung aussuchen. Da Carl erst nach seiner Militärzeit im April 1878 die Stelle des Assistenzarztes an der Landesanstalt Jena antrat, muss ihn die Familie weiterhin unterstützt haben.

      Carl wurde Assistenzarzt (cand. med. Hilfsarzt) an der Medizinischen Klinik unter Direktor Hermann Nothnagel (1841 – 1905) in Jena (SS 1878 bis WS 1881/82) und wohnte in der Bachgasse 417 – 418. Dies war gleichzeitig die Adresse der Grossherzoglichen Landes Heil-, Irren- und Pflegeanstalten und somit vermutlich seine Dienstwohnung. Nothnagel war dort der Lehrstuhlinhaber für Physiologie und Direktor der Medizinischen Klinik.

      „In den Jahren 1788-91 wurden die zu Beginn der 80er Jahre auf dem Gelände in der Bachstraße [zu Carls Zeiten: Bachgasse] ... gegründeten Privatkliniken in eine aus Staatsmitteln finanzierte Einrichtung, das Medicinisch-Chirurgisch-Klinische Institut, umgewandelt. 1803 errichtete die Stadt Jena ein Krankenhaus ... in das jeder Landesangehörige gegen Erstattung der Verpflegungskosten aufgenommen werden konnte ... Hatten die Jenaer Medizinstudenten um 1800 die Kranken überwiegend noch in ihren Wohnungen zu besuchen und zu behandeln, setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die stationäre Betreuung mehr und mehr durch. Die Bettenzahl ... stieg allein zwischen 1880 und 1900 von 279 auf 539“ (5).

      Gegen Ende seiner Ausbildung übernahm Carl im September 1876 die Praxisvertretung von Albert Nothnagel. Der Vater von Hermann Nothnagel war Dorfarzt (Wundarzt) in Alt-Lietzegöricke, einem kleinen Ort auf der östlichen Oderseite (Stare Łysogórki, heute Polen). Hermann Nothnagel schrieb am 1. Oktober 1876 in einem Brief an seinen Freund Dr. Schröder: „... und dann hatte sich mein alter Papa zum ersten Male seit 38 Jahren aus seiner Praxis auf 8 Tage losgemacht, und zwar ohne Sorgen, weil Karl Lüderitz ihn vertrat (ja, so weit ist der schon!)“ (2).

      Zwischen Wissenschaft und Armenmedizin

      Wissenschaftler haben eine spezifische Sicht auf diese Welt, also eine eher wissenschaftlich-verengte Perspektive. Carls Wissenschaft war das Erste, was wir wahrgenommen haben, als wir seine Fährte aufnahmen und anfingen, nach ihm zu suchen. Neben der gelegentlich zitierten Arbeit (1) gab es weitere Arbeiten zum Thema Darmmotorik, aber auch Arbeiten zur Mikrobiologie (Bakterien) und zur Kreislaufphysiologie. Jedoch wurden diese zehn Jahre und später nach seinem Umzug nach Berlin publiziert, also nach 1889. Das heißt, jedenfalls nach heutigem Standard, dass die Daten erst in der Zeit in Berlin erhoben wurden, und das wiederum, dass sie aus einem experimentell ausgestatteten Forschungslabor stammen müssen und nicht aus dem Hinterzimmer einer Arztpraxis. In der Tat trugen einige dieser Arbeiten den Vermerk „Aus dem physiologischen Institut zu Berlin“ und „Aus dem hygienischen Institut der Universität Berlin“, allerdings – anders als heutige Praxis – mit Carl Lüderitz als einzigem Autor. Bei einigen Arbeiten war auch „Dr. Carl Lüderitz, praktischer Arzt in Berlin“ vermerkt.

      Medizinische Klinik_rgbBild 1-2: Foto vom Eingangsbereich der Jenaer Landeskrankenanstalten vor 1910 mit Blick auf die Medizinische Klinik (Quelle: unbekannter Fotograf; zur Verfügung gestellt von Frank Döbert, Jena)

      Naheliegend war es, zunächst die Institute und deren Archive zu kontaktieren, so auch das Archiv der heutigen Humboldt-Universität. Immerhin handelt es sich um das Hygiene-Institut des Robert Koch (1843 – 1910), der 1885 nach Berlin berufen worden war, und um den Lehrstuhl des Physiologen Johannes Gad (1842 – 1926). Beide waren akademische Größen jener Zeit, deren Namen noch heute Klang haben. Insbesondere das Robert-Koch-Institut, das aus dem 1891 gegründeten und nicht zur Universität gehörigen Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten entstanden war und von Robert Koch geleitet wurde, hat alle Aktivitäten rund um das Institut penibel dokumentiert. Zum Abschied von der Universität wurde Robert Koch 1891 ein Album mit Fotos aller Mitarbeiter des Instituts überreicht. Carl Lüderitz war nicht darunter (6). In den Annalen des Gad-Instituts fand sich ebenfalls kein Hinweis auf einen Mitarbeiter Carl Lüderitz, auch wenn Lüderitz ihm in einer Arbeit für die Unterstützung dankte und Gad in einer eigenen Arbeit Lüderitz zitierte. Auch das Archiv der Universität und das Institut für Geschichte der Medizin an der Universität kannten ihn nicht.