Inquietudo. Alexander Suckel

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Название Inquietudo
Автор произведения Alexander Suckel
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
isbn 9783954629336



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do Sodré in einen Zug steigen und zum Meer fahren. Doch fürchtete er, es würde dort zu voll zu werden, weil alle Menschen der Stadt am Wochenende ans Meer fliehen. Man könnte auch mit der Drahtseilbahn nach Sant’Ana fahren, wo es einen Platz gibt, der den meisten flüchtigen Besuchern unbekannt ist, der auch deshalb wenig frequentiert wird, weil es in seiner Nähe keine Cafés gibt, in die man sich hätte zurückziehen können. Er beschloss, sich ein Mineralwasser vom Portier geben zu lassen und dorthin zu fahren. Er könnte ein Buch oder einige Bögen Papier mitnehmen, um dem Vormittag noch etwas Sinnvolles abzugewinnen. Lange Zeit verwendete Kruse auf das Binden einer Krawatte. Doch mal erschien ihm das eine Ende zu kurz, ein anderes Mal zu lang. Nach vielen erfolglosen Versuchen ließ er es bleiben. Bei diesen Temperaturen war es ohnehin besser, ohne Krawatte das Haus zu verlassen. Beim Hinausgehen, Saul, das mosambikanische Zimmermädchen, machte sich bereits mit dem Beziehen des Bettes und dem Aufräumen der lose dahingeworfenen Sachen zu schaffen, warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel. Es war Zeit, dass er endlich wieder einmal herauskam aus seiner freiwilligen Arrestur. Kruse verabschiedete sich von Saul, wünschte ihr einen schönen Tag und stieg, einigermaßen erwartungsfroh und gutgelaunt, die Treppen vom vierten Stock herunter zur Rezeption. Hinter einer Glastür und einem ziemlich schmierigen Tresen, auf dem einige veraltete Telefonbücher sowie in seltsamem Englisch verfasste handgeschriebene Hinweise für Hotelbesucher lagen, saß João, der Portier. João, so hießen alle Portiers dieser Stadt, und hießen sie nicht João, so heißen sie Juan oder José. Sein Alter konnte man auf Mitte, Ende vierzig schätzen; vielleicht war er zehn Jahre älter, gut möglich, ein paar Jahre jünger. Seine Gesichtsfarbe hatte etwas Bläuliches, was auf eine Herzerkrankung schließen ließ, ihn aber mitnichten hinderte, pro Tag zwei bis drei Packungen Zigaretten zu rauchen. Mehrmals täglich verließ er sein gläsernes Refugium, schloss die Schiebetür sorgsam ab, eilte die Treppen zur Straße herunter, an dem Stoffwarengeschäft vorbei, das sich im ersten Stock des Hauses befand, und ging in das kleine Bistro neben dem Hoteleingang, um sich ein Paket Zigaretten zu kaufen. Niemals zwei oder drei, seine Tagesration, sondern immer nur eines, so als gehörte dieser Ritus des Zigarettenholens, dieser täglich mehrmals praktizierte Ausflug aus dem Office zum normalen Arbeitsalltag des Portiers. Kaum hatte er die Glastür seines Arbeitsplatzes wieder geöffnet und hinter dem Tresen seinen Platz wieder eingenommen, riss er die Schachtel auf, zog eine der Zigaretten nach der andern heraus und riss die Filter ab, die er alle zusammen in einen großen Aschenbecher legte, was insofern erwähnenswert ist, weil er das mit den gerauchten Zigaretten niemals tat. Achtlos schnippte er die Kippen auf die Straße oder zertrat die Reste auf dem Boden. Doch die vor dem Rauchen abgetrennten Filter sammelte er, um sie am Abend bei Dienstschluss zusammenzuzählen und in den Papierkorb zu werfen. Die Konversation mit João beschränkte sich in der Regel auf einige Begrüßungen und Verabschiedungen pro Tag, auf einige kurze Unterredungen anlässlich des Wetters der kommenden Tage. Montags sprach Kruse mit ihm ausführlich über die Fußballergebnisse von Benfica und Sporting. Sie sprachen erst montags darüber, weil João am Sonntag seinen freien Tag hatte. Da fuhr er seine Mutter besuchen, die einige Kilometer außerhalb der Stadt in einer Vorortsiedlung wohnte. Umso erstaunlicher war, dass heute, an einem Sonntag, João in der Portiersloge saß.

      Meine Mutter ist im Alentejo bei einer Cousine, erklärte er, und was soll ich an solch einem tristen Tag allein zu Hause. Ich gehe lieber hierher und räume ein wenig das Büro auf. Viel hatte er allerdings bei seinen Aufräumungsarbeiten noch nicht zuwege gebracht. In dem, was er Büro nannte, herrschte nach wie vor eine apokalyptische Unordnung aus Rechnungszetteln, Reinigungsmitteln für Saul, ein paar Zahnpasta-Tuben und Rasierwasserfläschchen, die schon einige Jahre dort verstaubten. Kruse überlegte kurz, ob er auf einen Kaffee bei João verweilen sollte. Vielleicht war es ihm ja auch ein wenig langweilig. Das Hotel war kaum belegt, beziehungsweise die wenigen Gäste, die es bevölkerten, waren heute ans Meer gereist genau wie der Rest der Stadt. Aber wahrscheinlich wollte João seine Ruhe haben, wenigstens die Bleistifte anspitzen oder im Fernsehen die Übertragung eines Autorennens anschauen. Man würde ihn nur stören. Schon längst hätte Kruse ihn auf eine Macieira einladen können, aber er glaubte, dass João niemals öffentlich trank, jedenfalls tat er dies nicht mit Hotelgästen. Also erbat er sich lediglich eine Flasche Wasser und erzählte, dass er den Tag unter einem schattenspendenden Baum in Sant’Ana zu verbringen gedenke. Diese Auskunft grenzte schon fast an eine Indiskretion. João rückte umständlich einige Koffer beiseite, die jene Gäste dort abgestellt hatten, die am Abend nach England zurückreisten und noch einen Tag in der Stadt verbrachten. Diese geräuschvolle und in dem engen Büro wirklich komplizierte Tätigkeit umständlich beendend, griff João nach einer Batterie Wasserflaschen, löste die Plastikverpackung und reichte zwei von den Flaschen herüber.

      ***

      Kannst mitkommen, entschied Vince. Es klang etwas plötzlich und überraschend.

      Wohin eigentlich?

      Das genau war das Problem. Vince hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Die letzten Tage hatte er geradezu luxuriös gewohnt in einer komplett eingerichteten Wohnung in der Calle de Argumosa, nahe der Kirche San Lorenzo. Es war die Wohnung der Großeltern seines Freundes Moritz. Moritz war der einzige Mensch, der wusste, in welche Richtung es Vince verschlagen hatte. Heimlich hatten sie einen Schlüssel der großelterlichen Wohnung nachmachen lassen, den Vince mitnehmen konnte. Moritz hatte ihm eingeschärft, spätestens am 23. Dezember zu verschwinden, da würde die ganze Familie samt Großeltern zurückkehren wegen Weihnachten und Silvester. Er, Moritz, müsse auch mit. Aber bis dahin stünde die Wohnung leer. Vince hatte heute Morgen das Geschirr abgewaschen, den einen zersprungenen Teller in einer Mülltonne verschwinden lassen, alle Spuren seines Aufenthalts getilgt und die Wohnung verschlossen. Jetzt stand er da und wusste nicht, wohin in dieser Stadt. Dazu hatte er nun Julia an den Hacken, die wer weiß woher kam und nirgends hinzugehören schien. Und die ihm auch nicht weiterhelfen konnte.

      Hast du Geld? Immerhin besaß sie Sinn für das Praktische.

      Jedenfalls nicht genug. Nicht genug, um abzuhauen, präzisierte er.

      Um abzuhauen, braucht man doch kein Geld.

      Ach ja? Und wie macht man das? Hast du denn Geld?

      Nicht viel.

      Sie zählte ein paar Münzen und kleine Geldscheine aus ihrer Jackentasche.

      Wir können uns ja welches besorgen.

      Und wie?

      Die Geschäfte sind noch offen, die Leute kaufen auf den letzten Ritt Geschenke, da achtet keiner mehr drauf, wohin er seine Brieftasche steckt.

      Aber wir achten drauf, meinst du!

      Genau.

      Und dann?

      Dann kaufen wir uns eine Fahrkarte, irgendwohin, wo es nicht so kalt ist, weiter nach Süden oder so. Wir nehmen einfach einen Zug heute Abend, dann wissen wir wenigstens, wo wir die Nacht über bleiben können.

      Klingt gut. Vince blieb nicht mehr übrig, als dem Plan Julias eine gewisse Genialität zuzubilligen. Außerdem klang er nicht nur verlockend, sondern auch noch geradezu fantastisch simpel. Diese Verbindung ist selten, fand er.

      Und was ist jetzt mit der Sache, die du noch organisieren wolltest?

      Vergiss es. War nur so eine Idee.

      Sie gingen die Calle de Zorilla zurück, die Vince vorhin nach seinem Steinwurf so atemlos heruntergerannt war. Gingen durch albern weihnachtlich geschmückte Straßen voller hektischer Leute, allesamt schwer bepackt mit Kartons, die in buntes Papier eingeschlagen waren, versehen mit propellergroßen Schleifen. Akazienbäume und Palmen, die mit Nikoläusen behängt waren. Julia und Vince entschieden, in ein großes Kaufhaus zu gehen, dort würden sie eher zum Ziel kommen als in einem kleinen Laden. Sie verabredeten sich. Julia solle jeweils einen der schwitzenden bepackten Weihnachtseinkäufer ansprechen, ihn um eine Auskunft oder die Uhrzeit bitten, während Vince von hinten in die Manteltasche griff und sich die Brieftasche schnappte. Natürlich suchten sie ihre Opfer vorher aus, wussten, wer einen günstigen Fang zu machen versprach; wussten, wo sie zuschlagen konnten. Dabei mussten sie ständig auf der Hut sein vor Kaufhausdetektiven oder anderen Passanten, die sie hätten beobachten können. Dass es so schnell und reibungslos funktionieren