Im grünen Raum von Saint-Leu. Peter Lenzyn

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Название Im grünen Raum von Saint-Leu
Автор произведения Peter Lenzyn
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783954628575



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begeistern könnte.

      Ich war wieder einmal mit einer schlechten Note nach Hause gekommen. „Sieben!“, sagte ich und warf mein Physikheft auf den Küchentisch. Meine Mutter schaute mich an, begann zu weinen und sagte: „Ach, tu mir das doch jetzt nicht an.“ Für einen Moment bekam ich Schuldgefühle, welche mich vielleicht dazu gebracht hätten, etwas für die Schule zu tun. Aber ich bemerkte, dass meine Mutter Zwiebeln schnitt, und auch sie bemerkte, dass ich es bemerkt hatte – es waren also die Zwiebeln, die sie zum Weinen brachten –, und dann fiel uns nichts Besseres ein als zu lachen; das Lachen krampfte sich in uns fest, meine Mutter konnte sich kaum noch halten, und dann rutschte ihr auch noch das Messer aus der Hand, es fiel herunter und rammte seine Spitze ins teure Teakparkett. Wir schauten auf das dort zitternd stehende Messer und verstanden es als Symbol der so strengen Familie meines Vaters – und dann lachten wir erst recht; wir lachten und lachten, uns rollten die Tränen die Wangen herunter, ach, das tat uns gut – es war ein kurzer Moment, für den wir befreit waren von diesem wahnsinnig ernsten Paris, diesen ganzen Menschen, die sich hinter Fehlerlosigkeit und Hochpräzision verschanzten und es willig hinnahmen, für ihre gute Stellung im Leben schlecht auszusehen.

      Irgendwann hörten wir mit dem Lachen auf, das Physikheft mit der Sieben lag immer noch auf dem Küchentisch.

      Ich brauchte wirklich sehr lange, um in mein Pariser Leben hineinzufinden. Dass es mir am Ende doch ein wenig gelang, verdanke ich meiner Kunstlehrerin, einer sehr jungen, aber auch sehr ernsten Frau, die mich zu fördern begann. Aber sie tat es auf eine sehr ungewöhnliche Art. Zum Beispiel bat sie mich, Jacopo Tintorettos Bild „Frau mit entblößtem Busen“ vor der ganzen Klasse zu interpretieren.

      „Was siehst du?“, fragte sie.

      „Ich … äh“, sagte ich.

      „Ja?“

      „Ich sehe eine Frau, die nach rechts guckt, also von mir aus nach rechts.“

      „Nach rechts?“

      „Ja … äh … nach rechts.“

      „Und was siehst du noch?“

      „Äh … sie trägt ein blaues Kleid … äh, ja … und sie hat … mmh … ziemlich dicke … äh ziemlich dicke … dicke … Hände.“

      „Das ist richtig, manche sagen, es seien Männerhände. Wenn man die Zeit berücksichtigt, in der das Bild gemalt wurde, kann das durchaus stimmen. Was schließt du daraus?“

      „Äh, woraus?“

      „Daraus, dass es Männerhände sein könnten.“

      „Äh, weiß nich.“

      „Vielleicht könnte die Person, die Modell gestanden hat, ein Mann sein.“

      „Äh … klar, ein Mann.“

      „Ja.“

      „Aber wenn das ein Mann ist, warum … äh … warum …?“

      „Warum was?“

      „Naja, also … äh … die Brüste.“

      „Du meinst den entblößten Busen?“

      „Äh … ja … die Brüste.“

      Die ganze Klasse lachte.

      Wer am lautesten lachte, musste mit der Interpretation des Bildes fortfahren. Wir stotterten uns durch die anzüglichen Bilder des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und die Kunstlehrerin tat so, als würde sie überhaupt nicht verstehen, warum wir einen roten Kopf bekamen.

      Die Kunstlehrerin war fünf, höchstens sechs Jahre älter als ich. Sie hatte rotes, gewelltes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, und eine weiße, glasige Haut, unter der blaue Äderchen schimmerten, dazu ein schmales Gesicht mit grünen Augen, festem Blick und einer spitzen, etwas schiefen Nase. Manchmal überkam sie ein Zittern oder Schaudern, als kämpfte sie um ein inneres Gleichgewicht oder als fröre sie, fühlte sich unbehaglich. Manchmal dachte ich, sie sei nervös; aber sie war nie nervös, im Gegenteil, von ihr ging immer etwas sehr Festes aus. Sie war klein, sehr schlank – ich überlegte, sie zu fragen, ob ich sie einmal hochheben dürfte, ich wollte wissen, wie leicht sie war, sie musste überaus leicht sein.

      In der zweiten Jahreshälfte wechselten wir zur Kunst der Fotografie. Die Kunstlehrerin sprach vom Blick, den ein Fotograf hat. Sie wollte wissen, was für einen Blick wir hätten. Sie bat uns, zu bestimmten Themen Fotos zu machen – es waren Themen wie „Défense“, „Parks und Gärten“, „Champs Elysées“, „Warten“ und „Geschwindigkeit“. Ich bekam das Thema „Métro“. Ich sollte Fotos machen, die irgendetwas mit dem Thema „Métro“ zu tun hatten.

      Da ich die Métro genauso wenig wie Paris als Stadt mochte, machte ich Fotos, die meine angewiderte Haltung zum Ausdruck brachten. Die Fotos zeigten schwarze Tunnelöffnungen, aus denen die Métro kam oder in denen sie verschwand. Einen Jongleur, der seine fallengelassenen Bälle wieder aufsammelte. Schilder mit aufgestellten Metallnadeln gegen die Tauben. Müll, der durch die Gänge an der Porte de la Chapelle flog. Eine im Schienenbett herumirrende Ratte. Eine Frau im verrutschten Minirock, die ihren zu Boden geschlagenen Freund umarmte und dabei weinte.

      Die Kunstlehrerin beschäftigte sich mit meinen Fotos und erläuterte sie vor der Klasse. Sie sprach von der Abwendung von der Welt und der Suche nach einer neuen, sie sprach von Grenzen – verbotenen Zonen, gefährlichen Zonen – wer in sie hineintritt, erhofft sich etwas von ihnen … die Erfüllung von Sehnsüchten, eine Idee, erlösenden Tod oder belebenden Schmerz.

      Ich wusste nicht genau, wovon sie sprach, das Meiste davon klang ziemlich albern. Immer wieder sagte sie: „Du hast einen besonderen Blick“, oder: „Dein Blick – so etwas ist sehr selten.“

      Sie gab mir eine Neunzehn. Das war die beste Note, die sie in dem Jahr vergab. Diese Neunzehn machte meine Mutter sehr glücklich, auch wenn sie meine Fotos etwas morbide und die Kunstlehrerin ziemlich durchgeknallt fand.

      Der Kunstunterricht bekam mit der Farbenlehre einen neuen Schwerpunkt. Wir besprachen Farben aus naturwissenschaftlicher Sicht und kamen zur Farbmetrik. Wir wechselten zu künstlerisch-ästhetischen Sichtweisen von Leonardo da Vinci und George Seurat und erfuhren, welche Farbtöne als kalt oder warm zu verstehen waren. Die Kunstlehrerin forderte uns auf, unserem eigenen Empfinden nachzugehen, wir schauten uns Dias an, die Farbtöne zeigten, und dann ging es darum, zu jedem Farbton etwas zu sagen.

      „Dieses Gelb ist der Triumph des Hellen über das Dunkle, es ist warm, von ihm geht Signalwirkung aus, es will aufmerksam machen und warnen.“

      „Dieses Rot ist das Rot des Blutes, es ist mit Leben verknüpft, es bedeutet Energie und Wärme, Freude und Leidenschaft, Liebe und Erotik, aber auch Aggression und Zorn.“

      „Dieses Blau ist kalt und tief, es ist weit und klar, es vermittelt Sehnsucht, Beständigkeit, Harmonie und Zufriedenheit. Es ist das Blau des Meers.“

      „Das Meer ist schwarz.“

      Alle schauten zu mir herüber, auch die Kunstlehrerin. Ich war von der ziemlichen Bestimmtheit, mit der ich das sagte, selbst ein wenig überrascht. Aber ich sagte es noch einmal. „Das Meer ist schwarz.“

      Die Kunstlehrerin nannte den Blauton. Es war Ultramarinblau. Ultramarin. Sie fühlte sich bestätigt.

      „Was wissen Sie denn vom Meer?“, fragte ich.

      „Die Farbe des Meeres spiegelt die Farbe des Himmels wider“, sagte sie. „Ist der Himmel blau, ist das Meer blau. Ist der Himmel grau, ist das Meer grau. Das Meer kann also auch grau sein. Aber schwarz? Nun ja, manchmal ist auch der Himmel schwarz.“

      Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Aber wir reden doch vom Meer, nicht vom Himmel.“

      Und dann erklärte ich: „Sie haben ja recht, das Meer ist blau. Und es ist türkis, und es ist grün – für den, der am Strand sitzt und rausschaut, wer im Wasser plantscht, wer aus dem Flugzeug schaut, wer in Reisekatalogen blättert und in die Sonne will, auch für den. Aber wenn Sie weit draußen auf