Toter Kerl. Tim Herden

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Название Toter Kerl
Автор произведения Tim Herden
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783954620845



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mit seinen Männern am Unglücksort an. Einige hatten Seile über den Schultern.

      Rieder fragte Barnhöft: „Kommen Sie da ran?“

      Lutz Barnhöft nahm die blaue Schirmmütze vom Kopf, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. „Zu gefährlich. Wenn wir hier an der Abbruchkante einen Mann abseilen, besteht die Gefahr, dass wir alle in der Tiefe landen. Die Kreidefelsen sind hier so brüchig. Da ist nix zu machen.“

      „Aber irgendwie müssen wir doch rankommen? Vielleicht lebt er noch?“

      „Ein Rettungshubschrauber“, warf Inselarzt Doktor Müselbeck ein. „Die könnten jemanden abseilen und die beiden dann mit einer Winde an Bord nehmen.“

      „Die Rettungshubschrauber von Stralsund sind aber mit so was nicht ausgestattet“, gab Barnhöft zu bedenken. Rieder wurde ungeduldig. Er schaute sich nach Damp um. Der saß völlig erschöpft etwas abseits. Sein massiger Körper pumpte noch immer heftig. Das Gesicht war tiefrot gefärbt. Die Uniformbluse klebte ihm klatschnass am Körper. Rieder machte sich Sorgen um seinen Kollegen. „Alles okay?“

      Damp winkte nur ab. Dann stieß er hervor: „Küstenwacht anfordern! Die haben so einen Hubschrauber mit Winde.“

      „Genau“, sagte Barnhöft und wählte auch schon die Nummer der Einsatzzentrale.

      Müselbeck trat an Rieder heran und zog ihn am Ärmel etwas zur Seite. „Ich denke, wir wissen beide, wer dort liegt“, flüsterte er dem Polizisten zu. „Pfarrer Schneider trug vorgestern so eine rote Wetterjacke. Ich habe ihn getroffen, als er auf dem Weg zu seinem Boot im Seglerhafen von Vitte war.“

      Rieder nickte. „Ich denke auch, dass es Schneider ist.“ Nach ­einer kurzen Pause fragte er den Arzt: „Kann er den Sturz überlebt haben?“

      Müselbeck schüttelte den Kopf. „Das sind gute fünfzehn bis zwanzig Meter. Und jetzt im Sommer ist die Kreide trocken und damit hart wie Beton. Er müsste schon viel Glück gehabt haben. Und es gibt keine Regung, kein Lebenszeichen.“

      Barnhöft verkündete, dass die Küstenwacht sofort ihren in Warnemünde stationierten Helikopter nach Hiddensee losschicken würde.

      Kaum zwanzig Minuten später erfüllte ein Brummen die Luft. Von der Ostsee näherte sich ein Hubschrauber. Am Heck prangte der Schriftzug „Bundespolizei“. Barnhöft dirigierte per Funk den Piloten zu der Fundstelle. Ein Notarzt ließ sich an einer Winde langsam herab in die Tiefe, untersuchte dann die leblose Person und teilte mit, es handele sich um eine tote männliche Person. Die Polizisten müssten entscheiden, ob sie den Leichnam gleich nach Rostock fliegen oder ob der Hubschrauber kurz landen sollte, um sich den Toten anzusehen.

      „Kurz landen“, befahl Rieder.

      Die Besatzung hatte den Toten schon in einem Leichensack verstaut.

      „Kein schöner Anblick“, meinte der Pilot. Der Notarzt und ein Sanitäter öffneten den Reißverschluss des Leichensacks. Schon an den hellbraunen, dünnen Haarsträhnen erkannte Rieder den Pfarrer. Die hohe Stirn war voller Schrammen, die Gläser der Brille waren zersplittert. Der Anblick der Wangen ließ alle erschaudern, sie waren blutig und voller Löcher. Müselbeck schluckte und ging ein Stück zur Seite. „Vogelfraß. Möwen fressen, was sie kriegen können“, bemerkte der Sanitäter trocken.

      „Können Sie etwas zur Todesursache sagen?“ Kopfschütteln. „Schussverletzungen?“

      „Nein, habe ich nicht entdeckt. Am Hinterkopf hat er eine Wunde, kann aber eher durch den Aufprall auf den Felsen passiert sein“, sagte der Mann im olivgrünen Overall. „Näheres muss der Pathologe herausfinden.“

      „Wir sollten ihn nach Greifswald bringen“, mischte sich der Pilot ein. „Das ist wohl deren Revier hier. Die melden sich dann bei Ihnen. Können Sie uns was über die Identität des Toten sagen?“

      „Es ist der hiesige Pfarrer, Jens-Uwe Schneider.“

      „Und wie heißt der Fundort da oben an der Steilküste?“

      Rieder zuckte mit den Schultern.

      „Toter Kerl“, sagte Damp.

      XI

      So was habe ich schon geahnt“, erwiderte Bökemüller auf Rieders neueste Mitteilung. „Die Einsatzzentrale hat mich auch gleich informiert, nachdem diese Frau den Fund gemeldet hatte. Ich komme zur Insel. Ich muss sowieso mit Ihnen sprechen. Können Sie da irgendwo einen Raum mieten für ein Meeting.“

      „Im Rathaus gibt es dafür nichts Passendes. Vielleicht im ‚Godewind‘?“ Das „Godewind“ war ein Hotel im Zentrum von Vitte.

      Bökemüller war einverstanden. Er wollte gegen Mittag auf der Insel sein. Behm von der Spurensicherung würde mitkommen. Zuerst wollten sie sich den Fundort an der Steilküste ansehen und dann ins „Godewind“ fahren, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

      „Das wird einen ganz schönen Aufruhr geben. Ich muss das Ministerium in Schwerin umgehend informieren und natürlich die hiesige Kirchenleitung“, sprach der Polizeichef von Stralsund mehr zu sich als zu Rieder ins Telefon. „Wie wird man es auf der Insel aufnehmen?“

      „Keine Ahnung“, meinte Rieder. „Ich bin zu kurz auf Hiddensee, um zu wissen, welche Rolle der Pfarrer hier gespielt hat.“ Gleichzeitig fiel ihm ein, er müsste so schnell wie möglich auch Bürgermeister Durk von den neuen Entwicklungen in Kenntnis setzen. Der war äußerst empfindlich, wenn man ihn überging oder nicht sofort über Vorkommnisse auf der Insel informierte.

      „Ich rede mal mit dem Bürgermeister.“

      Damp stand etwas abseits, hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Rieder, der sich noch einmal die Abbruchkante der Steilküste in der Nähe der Fundstelle angesehen hatte, ging zu ihm. „Könnten Sie einen Raum im ‚Godewind‘ besorgen. Bökemüller will dort gegen Mittag eine Einsatzbesprechung abhalten.“

      Damp drehte langsam den Kopf in Rieders Richtung. Er schaute ihn lange an. „Wieso? Sie legen sich doch so mächtig ins Zeug? Dann können Sie das doch auch selbst machen.“ Damit drehte er sich um und schlenderte davon, als ginge ihn das hier nichts an. Rieder eilte ihm hinterher. „Damp, was soll das?“

      Der Inselpolizist blieb stehen. „Was das soll? Überlegen Sie mal? Sie haben sich den Fall auf Ihre Seite des Schreibtischs gezogen. Also bitte … ich muss hier nicht den Kommissar spielen.“

      Ging das wieder von vorne los, dachte Rieder wütend. Schon beim letzten Fall hatten sich die beiden Hiddenseer Polizisten ständig in die Haare gekriegt.

      „Okay, ich bin vielleicht etwas vorgeprescht“, räumte Rieder ein, „aber … Sie haben mich immerhin gestern hierher geschickt, wenn Sie sich erinnern.“

      Damp zeigte wütend mit dem Finger auf Rieder. „Sie spielen hier den Chef. Aber: Sie sind nicht der Chef, jedenfalls nicht mein Chef, und ich bin nicht Ihr Fahrer oder Befehlsempfänger. Also suchen Sie sich die Nummer vom ‚Godewind‘ raus und bestellen Sie Ihren Tisch zum Kuscheln mit dem Chef gefällig selbst.“ Damit ließ er Rieder stehen und lief den Pfad zurück zu der Stelle, wo der Polizeiwagen stand. Dabei stieß er fast mit einem gleichgroßen dunkelhaarigen Mann mit Vollbart zusammen. „Damp!“, brüllte dieser den Polizisten an. „Warum werde ich nicht informiert?“ Das war Michael Durk, Bürgermeister von Hiddensee. Rieder konnte beobachten, wie Damp zur Salzsäule erstarrte und irgendetwas stammelte. Dabei zeigte er mit seinem Arm in Richtung Rieder. Durk schob Damp beiseite, sodass der riesige Körper des Polizisten fast ins Gestrüpp gekippt wäre. Der Bürgermeister stürmte den Weg nach oben und rief nun nach Rieder. Die umstehenden Feuerwehrleute konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn alle wussten um das angespannte Verhältnis zwischen den Inselpolizisten und der Inselobrigkeit. Rieder war ihm unheimlich mit seiner Vergangenheit als Ermittler einer Berliner Mordkommission. Damp störte ihn mit seiner penetranten Ordnungsliebe.

      „Warum erfahre ich als Letzter, was passiert ist?“, fuhr