Emsgrab. Wolfgang Santjer

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Название Emsgrab
Автор произведения Wolfgang Santjer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264287



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befunden und hatte als zweites Fahrzeug die Brücke passieren sollen. Der Baggerbesatzung hatten die Haare zu Berge gestanden, als sie die verzweifelten Manöver der Seeschiffsführung beobachtet hatten. Damals war es fast zu einer folgeschweren Kollision mit dem Klappteil gekommen.

      Die Brücke wurde deswegen immer sehr frühzeitig geöffnet. Die etwas längere Öffnungszeit war für die Autofahrer sicher besser zu ertragen als ein monatelanger Totalausfall der Brücke.

      Henk de Olde saß auf seinem Steuerstuhl und beobachtete, wie die Autos vor den Schranken hielten. Die Klappe hob sich und die grünen Signallampen gaben schließlich die Durchfahrt frei. Langsam manövrierte er den Bagger durch die Brücke.

      »Danke für die Öffnung. Bis zum nächsten Mal.«

      Nach den Jahren kannte man sich und hörte schon an der Stimme, wer auf der anderen Seite des Funkgerätes war. »Kein Problem, Henk«, kam es von der Brücke zurück. »Gute Fahrt.«

      Henk hatte in der kostenlosen Sonntagszeitung gelesen, dass sich Autofahrer über die ständigen Öffnungen der Brücke aufregten. Verständnis hatte er für diese Leute nicht. Die Schranken der alten Jann-Berghaus-Brücke hatten damals aufgrund der niedrigeren Durchfahrtshöhe öfter geschlossen werden müssen. Henk konnte sich noch gut an den umständlichen Öffnungs-Mechanismus der alten Brücke erinnern. Auch die reine Öffnungszeit war durch die neue Brücke verkürzt worden.

      Als sich vor etwa zehn Jahren ein Pfeiler der alten Brücke gefährlich zur Seite geneigt hatte, hatte man die Gelegenheit ergriffen und gleich eine ganz neue Brücke gebaut. Dass man damit auch eine größere Brückenöffnung erreicht hatte, störte die Verantwortlichen der Cruise Liner Werft ganz bestimmt nicht – jetzt konnten noch mächtigere Kreuzfahrtschiffe gebaut werden …

      Diesen letzten Gedanken behielt er besser für sich. Nicht zuletzt sein Job hing von der Werft ab.

      Das Ruderhaus des Baggers wurde hydraulisch hochgefahren. Nun hatte Henk von hier oben einen wunderbaren Ausblick über die Flusslandschaft und beobachtete den Nebel, der langsam über den Feldern aufstieg.

      An der neuen Einsatzstelle senkte Schiffsführer Henk de Olde das Saugrohr an der Backbordseite des Baggers auf den Flussgrund.

      Im Gegensatz zu den Baggern der älteren Generation, den sogenannten Eimerkettenbaggern, wurde bei den neuen der Flussgrund mit starken Düsen zunächst gelöst und gleichzeitig aufgesaugt. Abgesehen davon, dass damit auch Organismen vom Grund gelöst wurden, die den Sauerstoff im Wasser bis auf einen Rest verbrauchten, der für einen Fisch zum Überleben nicht ausreichte, gab es bei dieser Methode ein weiteres Problem: Ein erheblicher Anteil der gelösten Bestandteile konnte nicht aufgenommen werden, und dieser Schlick trieb dann für mehrere Wochen als Schwebstoff im Fluss. Diese Schwebstoffe setzen sich später im ruhigen Wasser ab.

      Diese Verschlickung führte in den Flusshäfen zu erheblichen Problemen: Die Wassertiefe nahm ständig ab und Schiffe liefen auf Grund. Die Hafenbetreiber versuchten nun, die dort abgesetzten Schlickbestandteile mit verschiedenen Methoden aufzuspülen und nach dem Sankt-Florians-Prinzip zurück in den Fluss zu pumpen. Das verstärkte die Probleme am Fluss erheblich, aber kurzsichtig dachte nur jede Verwaltung an die eigenen Interessen und trug dazu bei, dass sich ein graubraunes Leichentuch über den Fluss legte.

      Henk de Olde hatte keine Zeit für solche Gedanken, sein Bagger war für die andere Schifffahrt ein Hindernis im Fahrwasser. Der Baggerführer sprach die Begegnungen mit den anderen Fahrzeugen ab, um gefährliche Annäherungen zu vermeiden.

      Der aufgesaugte Flussboden füllte langsam den Laderaum, und nach einigen Stunden war es an der Zeit, den Einsatz zu beenden. Die Signale, die den Bagger als manövrierbehindert kennzeichneten, wurden eingeholt. Damit war er wieder ein ganz normales Fahrzeug und andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr gezwungen, ihm auszuweichen.

      Das Saugrohr wurde hochgezogen und de Olde steuerte sein Fahrzeug in Richtung Löschstelle. Inzwischen war es dunkel und neblig geworden. Das grüne Licht des Radars und die Leuchten der Kontrollgeräte erzeugten eine gespenstische Stimmung im Ruderhaus. Jedes unnötige Licht wurde ausgeschaltet, um die Sicht nach außen nicht zu beeinträchtigen.

      Der Matrose Martin stand gelangweilt in der Ecke.

      Henk seufzte unwillkürlich auf. Erst neulich hatte er sich Martin zur Brust genommen. Hatte doch der Kerl während der Fahrt bei Dunkelheit die Innenbeleuchtung des Ruderhauses angemacht! Henk hatte draußen prompt nichts mehr gesehen, Blindflug sozusagen. Den Anschnauzer hatte Martin sich verdient.

      »Martin, spül das Deck und zwischendurch machst du den Ausguck. Sprechanlage ist eingeschaltet. Der Nebel wird immer dichter. Hörst du oder siehst du was: Meldung. Kapiert?«

      Martin öffnete die Ruderhaustür.

      »Halt, verdammt noch mal!«

      »Henk, ich hab den Lichtschalter nicht mal angerührt.«

      »Nee, das nicht – aber deine Rettungsweste hast du vergessen.« Henk verdrehte die Augen. Er sah, wie sich Martin die Rettungsweste umlegte und damit begann, das Deck zu säubern. Der Schlick musste regelmäßig abgespült werden.

      Für die erneute Passage der Brücke stellte Henk das Radargerät auf Nahbereich um. Der Nebel wurde immer dichter und die Wettervorhersage kündigte an, dass es noch schlimmer werden würde.

      Die erforderliche Brückenöffnung hatte Henk über den Schiffsfunk beim Brückenwärter Schröder schon angekündigt. Die grünen Signallichter für die freigegebene Brückenpassage waren im Nebel nur schwach zu sehen.

      2.

      Nördliches Rheiderland

      Er sah in den Spiegel und betrachtete sein müdes, blasses Gesicht. Die fettigen Haare und die Bartstoppeln machten es auch nicht besser. Rote Augen und schwarze Augenringe vervollständigten den elenden Eindruck.

      Er ließ die Sonnenrollos vor den Fenstern herunter und beschloss, den Spiegel zu meiden. Sein Blick streifte die dreckige Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte.

      Das war also übrig vom Neuanfang in diesem Kaff. Egal, wohin man zog, man nahm sich und seine Probleme immer mit.

      Der Anfang hier war irgendwie verkrampft verlaufen. Seine Ehefrau hatte alles richtig machen wollen. Hatte sich um ihn gekümmert und versucht, besonders nett zu ihm zu sein. Sie war ständig beschäftigt gewesen, so als vermiede sie es, ihm gegenüberzusitzen. Er hatte meistens in der Küche herumgesessen und sich nicht aufraffen können, etwas Sinnvolles zu tun. Seine Frau hatte immer wieder versucht, ihm irgendwelche Aufträge zu geben. Angeblich sei nach dem Umzug noch vieles zu erledigen. Wenigstens zum Arzt sollte er gehen.

      Er hatte sich einen Arzt gesucht, einen Termin vereinbart und gehofft, dass seine Frau nun Ruhe gab.

      Der Arzt hatte sich angehört, wo seine Probleme lagen, und vermutete, dass eine Depression vorlag.

      Eine Überweisung zum Facharzt war ausgestellt worden und er hatte Tabletten verschrieben bekommen. Die sollten ihm dabei helfen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Aggressionen! Nur weil er sich beim Arztbesuch im Wartezimmer etwas aufgeregt hatte …

      Die Tabletten lagen noch vollständig in der Schublade und einen neuen Termin hatte er sich auch noch nicht besorgt. Seine Frau machte ihm deswegen Vorwürfe, die er beständig ignorierte.

      Seine Frau war zu ihm auf Abstand gegangen, nicht nur im Bett.

      An einem Morgen nach einem taubstummen Frühstück hatte sie zu ihm gesagt: »Geh doch mal unter Leute! Heute Abend ist im Sielhus in Jemgum eine Veranstaltung. Thema ist die Emsvertiefung und der Deichschutz. Das interessiert dich doch immer.« Sie hatte ihm die Tageszeitung hingeschoben und mit dem Finger auf die Ankündigung getippt.

      Er hatte sich dann tatsächlich am Abend aufgerafft und war nach Jemgum gefahren, um an der Versammlung teilzunehmen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, seine Frau wollte ihn loswerden.

      Zunächst hatte er das unscheinbare kleine Haus gar nicht finden können. So begann der Abend schon recht