Wut und Wellen. Peter Gerdes

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Название Wut und Wellen
Автор произведения Peter Gerdes
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264706



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Wunder, die Jalousien sind ja auch noch zu«, erwiderte er. In ihm brodelte es schon wieder, wie jedes Mal, wenn er mehr als zehn Minuten am Stück mit seinem Vater verbrachte. Ob das anderen Söhnen auch so ging?

      »Mach dir nichts draus.« Seine Mutter strich ihm über den Rücken. »Du weißt ja, wie er ist. Er meint es nicht so.«

      »Dadurch wird es auch nicht angenehmer«, sagte er. Aber er tat es halblaut, um seine Mutter nicht zu brüskieren. Ihr zuliebe ertrug er immer wieder einmal das Zusammensein mit seinem verhassten Vater, auch wenn er sich als Teenager geschworen hatte, ihn nach 18. Geburtstag nie mehr wiederzusehen. Ihr zuliebe würde er fast alles tun. Er wusste, dass sie beinahe ebenso sehr unter den Allüren ihres Gatten litt wie er. Der Himmel mochte wissen, wie sie ihn all die Jahre hatte ertragen können.

      »Du musst ihn verstehen.« Sie fuhr fort, seinen Rücken zu massieren, und er genoss es, als sei er wieder ein kleines Kind. Kein Problem, solange er nicht dabei war. »Vorhin, auf der Fähre, hat er eine Zeitung liegen sehen, eine von hier, und da standen wirklich schlimme Dinge drin. Darüber, wie die Leute hier in Wahrheit über ihre Gäste denken. Total abfällig und respektlos. Dein Vater wäre am liebsten sofort umgekehrt. Aber das ging ja nicht, so mitten auf dem Wasser.« Sie lachte gekünstelt. Dieser Text musste auch ihr an die Nieren gegangen sein.

      »Abfällig? Also, das kann ich mir …« Dann fiel es ihm wieder ein. Marian Godehaus Text im Inselboten über die Viererbande, diese alten Säcke, die immer am Bahnhof hockten und mäkelten! Unwillkürlich musste er grinsen. »Ach Mama, ich bitte dich! Solche Miesepeter gibt es doch überall. Sind aber nur eine unbedeutende Minderheit. Die kann man doch nicht ernst nehmen.«

      »Na ja, wenn du meinst.« Wie gewöhnlich ließ sie sich leicht und schnell besänftigen. »Wir fühlten uns schon sehr abgelehnt. Aber vermutlich hast du recht. Gar nicht ignorieren, nicht wahr?« Jetzt klang ihr Lachen schon natürlicher.

      Sein Vater erschien wieder in der Tür. Anscheinend hatte er keine der Jalousien geöffnet, denn im Hausinneren war es immer noch dämmerig. »Wo bleibt ihr denn?«, herrschte er die beiden an. »Oder traut ihr euch etwa nicht rein in diese Bruchbude? Na, das könnte ich euch noch nicht einmal verdenken.« Er streckte die rechte Hand vor und präsentierte einen messinggelb glänzenden Gegenstand. »Hier, sogar die Gasanlage hat schon angefangen zu zerbröseln! Da wären wir ja auf jedem Campingplatz sicherer aufgehoben als hier.«

      »Wieso das denn?«, stammelte Jannik Bartels. »Hier ist doch alles elektrisch.« Aber das Ding in seines Vaters Hand sprach eine andere Sprache. Eindeutig das Drosselventil einer Propangasflasche. Gehört vielleicht zur Terrassenheizung, überlegte er. Aber warum liegt es hier herum?

      Bartels senior schob das Messingteil in seine Manteltasche. »Das stelle ich mal sicher, als Beleg für die Mietminderungsforderung. Falls ich den Besitzer damit davonkommen lasse.« Er wandte sich wieder dem Hausinneren zu. »Erst einmal sehen, was für Mängel sich da sonst noch verborgen halten. Oben bin ich ja noch gar nicht gewesen.« Er stapfte los. Der kleine Koch hörte ein lautes Poltern; offenbar hatte sein Vater im Halbdunklen etwas umgerannt. Hoffentlich muss ich nicht noch Schadenersatz leisten, schoss es Jannik Bartels durch den Kopf. Das wäre mehr als peinlich.

      »Hier bricht man sich ja alle Knochen«, hörte er seinen Vater schimpfen. »Wo ist denn wohl der Lichtschalter für den ersten Stock? Hast du nicht gesagt, die hätten hier schon Strom?«

      Auf einmal hatte Jannik Bartels ein mulmiges Gefühl. »Vater«, sagte er mit plötzlich brüchiger Stimme, räusperte sich und wiederholte laut: »Vater, warte doch mal!«

      »Was ist denn jetzt schon wieder«, knurrte es von drinnen, als hätte Jannik seinen Erzeuger seit dessen Eintreffen schon ein Dutzendmal mit Anliegen belästigt. »Nun lass mich doch erst einmal gucken, wie es da oben aussieht. Ah, da ist ja …«

      Jannik Bartels drückte seine Mutter ganz fest an sich und wandte dem Ferienhaus den Rücken zu. So entging ihm der Anblick des Ferienhausdachs, das sich auftat wie der Schlund eines Vulkans, eine Feuersäule in die Höhe spie und einen Schwall geborstener Dachpfannen auf die Umgebung regnen ließ. Den Explosionsknall freilich hörte er, wenn auch gedämpft, denn halb taub war er ja bereits. Auch die Hitzewoge und die Ziegelbröckchen, die ihn trafen, spürte er natürlich. Aber die konnten ihn nach allem, was er an diesem Tag schon erlebt hatte, nicht mehr sonderlich überraschen.

      11.

      Müde sieht er aus, dachte Stahnke, als er Kramer zum wiederholten Mal draußen auf dem Gang vorbeihasten sah. Müde und gestresst. Der Hauptkommissar hatte ein schlechtes Gewissen, denn gestern am späten Abend, als er endlich nach Hause gegangen war, hatte Kramer noch an seinem Computer gesessen, und heute früh, als Stahnke halbwegs ausgeruht seinen Dienst wieder antrat, hatte der Oberkommissar bereits wieder dort gehockt. Oder etwa immer noch? Stahnke traute sich nicht zu fragen.

      Die viele Arbeit allein hatte Kramers Gesicht bestimmt nicht so staubgrau werden lassen. Schließlich war dies nicht die erste Mordkommission, an der sie beide beteiligt waren, wahrhaftig nicht. Gewaltsame Tötung, das bedeutete immer Ausnahmezustand. Die Normalität des Dienstbetriebs war aufgehoben, der übliche Zeittakt der Ermittlungsarbeit galt nicht mehr. Statt im eingespielten Duo wurde mit zwei Dutzend Kolleginnen und Kollegen zusammengearbeitet, was permanente Abstimmung und Koordination erforderte. Feierabend wurde zum Fremdwort, Schlaf zum Luxus. Innerhalb der ersten ein oder zwei Tage galt es, zum Erfolg oder jedenfalls zu einem Teilerfolg zu kommen, ehe heiße Spuren erkalteten und mögliche Fluchtradien sich bis ins Unüberschaubare erweiterten.

      Dass Stahnke nachts überhaupt nach Hause gegangen war, hatte weniger mit seiner Position als vielmehr mit der realistischen Einschätzung seines Durchhaltevermögens zu tun. Vor 20 Jahren hätte es dazu noch eines ausdrücklichen dienstlichen Befehls bedurft. Jetzt reichten schon Kriminaldirektor Manningas hochgezogene Augenbrauen: »Powern ohne Pause? Mensch, in unserem Alter können wir das nicht mehr.« Gestern hatte ihm das eingeleuchtet, heute schämte er sich. Was für ein Weichei er doch geworden war!

      Kramer war die entscheidenden zehneinhalb Jährchen jünger, der konnte das noch. Nein, nicht die Arbeit und die Hektik hatten ihn jetzt so gezeichnet, sondern der Frust. Vielmehr die Angst vor dem Frust. Die Sorge, Täter und Opfer könnten in keinerlei wie auch immer gearteten Beziehung zueinanderstehen. Nichts miteinander zu tun gehabt haben. Sich völlig fremd sein. Dann, tja – dann konnten sie ebenso gut versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln. Dann konnten sie höchstens noch auf die Gunst des Zufalls hoffen. Oder darauf, dass sich mit sehr, sehr viel Arbeit aus dem großen Heuhaufen nicht etwa eine Nadel, sondern das eine, das gesuchte Hälmchen heraussieben ließ.

      Unmöglich war das nicht. Sie hatten das schon einmal durchexerziert, war noch gar nicht so lange her. Seinerzeit hatte sich ein Junkie darauf spezialisiert, alten Damen die Handtaschen wegzureißen. Eine Frau hatte er dabei umgerissen, sie stürzte unglücklich und erlag wenig später ihren Verletzungen. Die öffentliche Empörung war ebenso groß wie verständlich, der Druck auf die Polizei gewaltig – und der drohende Frust erdrückend. Es gab keine Verbindung zwischen Täter und Opfer, nicht die geringste. Wo sollten sie ansetzen?

      Immerhin hatte sie eine stichhaltige Vermutung gehabt, in welchem Milieu der Raubmörder zu suchen war. Die gesamte Drogenszene hatten sie durchkämmt, jeden Kontakt genutzt, waren jedem Hinweis nachgegangen. Es hatte sich hingezogen, der Ton der Presse gegenüber der Polizei war schärfer geworden, die kritischen Fragen drängender. Aber dann, irgendwann, hatten sie ihn gehabt. Nach langem, entnervendem Sieben war der Richtige im Sieb hängen geblieben. Und sie, das konnten sie dann überall lesen, hatten alles richtig gemacht.

      Vergessen der Frust. Tja, hinterher. Bis dahin war es aus heutiger Sicht noch ein weiter Weg. Und wer konnte wissen, ob sie überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hatten?

      Wieder erschien Kramer in der Tür, nur stürmte er diesmal nicht vorbei, sondern herein und warf dem Hauptkommissar einen Zettel auf den Tisch. »Hier. Kannst du mal anrufen, sie herbestellen oder einen Termin ausmachen?«

      Stahnke starrte Kramers schmalem Rücken hinterher, auch noch einige Sekunden, nachdem dieser wieder um die Ecke verschwunden war. Dann senkte er den