New Hope City. Severin Beyer

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Название New Hope City
Автор произведения Severin Beyer
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957771421



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zu töten ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Eingesperrt in seiner Wabe, diesem winzigen Ort zugestandener Privatheit, hatte er nach langem hin und her schließlich die Freiheit des Netzes gesucht. Uninspiriert hatte er öffentliche und private Shareplattformen auf der Suche nach Interessantem durchforscht, aber die üblichen Verdächtigen boten auch nur die üblichen Inhalte. Aus purer Not loggte er sich in das Pornoportal Happy Together ein, doch von den empfohlenen Videos überzeugten ihn weder Tim&Collegegirls#Springbreak noch RoboboylovesSusanC oder 3BlackDicks1whiteslut und so landete er bei einem Lesbenporno.

      Uninteressiert hatte er jedoch mehr seinen Fischen im Aquarium zugesehen als den beiden Japanerinnen, die sich schreiend die Kimonos vom Leib rissen. Der Porno hatte sich dann auch zunehmend absurder entwickelt. Spätestens beim schlecht animierten Tentakelmonster war sein Interesse an dem Film endgültig erschöpft gewesen. Per Zufall fand er eine Dokumentationsreihe über Künstler der Renaissance und des Frühbarocks, die ihn zum Glück über den restlichen Tag brachte. Rivera wählte zuerst die Folge mit Caravaggio und beendete seinen Dokumentationsmarathon mit Leonardo da Vinci.

      Aggression. Das Wummern von Plattenbaubeben im Kopf zusammen mit dem Kreischen der Kinder, die von ihrem Vater Kronos gefressen wurden. Er war wieder auf der Straße, in den vom dämmrigen Licht beschienenen kalten Betonröhren, die zu den Bezirken New Hopes führten, die nie offiziell in Betrieb genommen worden waren. Dort, wo die lebten, die nichts hatten und nirgendwo sonst hinkonnten. Illegale Einwanderer, Obdachlose, Leute auf der Flucht vor der Staatsgewalt ... All diesen Menschen bot der Bezirk World’s End mit seinen Betonruinen und provisorischen Kunststoffbauten ein schmutziges und menschenunwürdiges Zuhause.

      Für Rivera jedoch viel wichtiger: Hier vermisste man niemanden, hier gab es genügend Beute. Hier waren Argus’ Augen blind.

      Es fehlte zwar der prickelnde Reiz des Erwischtwerdens, so wie am Erasmus mit seinen Menschenmassen und der Polizeipräsenz. Aber den Kitzel konnte sich Rivera in nächster Zeit nicht leisten. Er trug daher auch nicht seinen weißen Anzug, so wie sonst üblich, sondern begnügte sich mit unauffälliger straßentauglicher Kleidung. Er verspürte brennende Wut, wenn er daran dachte, sich in den nächsten Monaten in seiner gewohnten Art des Jagens einzuschränken: belebte Gebiete zu meiden, absolut mittelmäßige Alltagskleidung zu tragen, und sich ausschließlich vom Abschaum der Gesellschaft zu nähren. Rivera fluchte innerlich auf äußerst obszöne Weise. Doch das Töten war ihm im Zweifelsfall wichtiger als das Wie.

      In den dunklen Bauruinen unfertiger Blocks war es für ihn am einfachsten, sich unbemerkt mit seiner Beute zu vergnügen. Das war es, was Rivera jetzt brauchte; maximale Brutalität, möglichst lange auskostbar.

      Ein Umgebungsscann zeigte ihm sämtliche technische Anwendungen in der Umgebung, darunter mehrere Smartpods, zwei Ghosts, aber keine Überwachungssysteme. Er wählte einen der abgeschiedenen Smartpods aus.

      Mit beschleunigten Schritten steuerte Rivera das Ziel seiner Wahl an. Hier gab es keine Beleuchtung, aber das konnte ihm mit seinen Augen egal sein, die selbstverständlich über Nachtsicht verfügten.

      Einer der beiden Ghosts, die er aufgespürt hatte, kam ihm wankend entgegen. Niemand wusste, woher diese roboterhaften Kreaturen kamen. Man munkelte, dass es sich bei ihnen um Menschen aus der Ära der ersten TransTech-Revolution handelte, die den Durchbruch technischer Implantate bedeutet hatte. In deren Folge waren die ersten Cyborgs entstanden. Doch manche dieser Technikbegeisterten hätten ihren Körper nach und nach vollkommen durch das damals verfügbare TransTech ausgetauscht, so hieß es. Zurückgeblieben seien diese stumpfen und auf wenig mehr als auf ihre grundlegenden Überlebensinstinkte reduzierten Kreaturen geblieben. Urban Myths. Andere behaupteten recht unspektakulär, dass es sich bei den Ghosts lediglich um die Resultate von Hobbybastlern oder um freigelassene Prototypen aus Forschungseinrichtungen handelte.

      Wie dem auch war, da sie niemandem etwas taten und sich in weitgehend unbewohnte Gegenden und Schrottplätze zurückzogen, wurde von amtlicher Seite nichts gegen sie unternommen. In den Fokus der Öffentlichkeit gerieten sie hauptsächlich durch PR-wirksame Aktionen von Pro-Ghost-Aktivisten, die auf die gelegentliche Zerstörung von Ghosts durch Rowdys aufmerksam machten.

      Rivera war stehengeblieben und betrachtete die Metallkonstruktion, während sie an ihm vorbeischlurfte. Sie war einem gebückten menschlichen Skelett nicht unähnlich, dem mehrerer Metallstangen aus dem Rücken ragten. Gewissermaßen war dieser Ghost genauso künstlich wie er selbst. Nur dass er, Rivera, ein Bewusstsein hatte, das diesen Namen auch verdiente. Einmal hatte er sich in einen Ghost gehackt und sich selbst mit den Augen eines solchen Wesens betrachtet. Die Erinnerung daran, in ein anderes Bewusstsein einzudringen, wie einfach gestrickt es auch war, war sehr … befremdlich gewesen.

      Ben Rivera war einer der wenigen Menschen, die überhaupt dazu in der Lage waren, eine solche Erfahrung zu machen. Denn entgegen den Prophezeiungen der Vergangenheit war die breite Masse nie in den Genuss gekommen, sich mit dem eigenen Geist in das Internet einzuloggen. Es sei denn, man gehörte zu dem erlesenen Kreis von Zeitgenossen der Netwalker, die illegal mit dem Risiko des Cyberspace spielten.

      Schweigend ließ Rivera den schwankenden Haufen Technik an sich vorübergehen. Dann wandte er sich wieder dem ursprünglichen Grund zu, weswegen er überhaupt erst in diese deprimierende Gegend aus Ruinen und zusammengezimmerten Slumwohnungen gekommen war. Das Signal eines einsamen Smartpods zeigte ihm nach wie vor die Position seiner Beute an. Rivera verspürte schon die innere Befriedigung, die ihm die Vorstellung seines baldigen Zerstörungswerks verschaffte. Seine Beute befand sich in der Eingangshalle des gegenüberliegenden Wabenblockes. Der Killer hätte auf die Daten des Smartpods zugreifen und somit etwas über sein Opfer herausfinden können, doch er bevorzugte die Überraschung. In freudiger Erwartung neigte er seinen Kopf zur Seite und ließ sein Genick knacken. Es konnte losgehen. Endlich.

      Die Luft in der Halle war dumpf und abgestanden. Graffitis an den Wänden zeugten von der überschaubaren Kreativität selbsternannter Straßenkünstler, während haufenweise Müll auf dem Boden der Beweis dafür war, dass hier in der Vergangenheit schon mehrere Menschen gehaust hatten. Rivera kam sich beinahe wie ein Archäologe vor, der als erster Mensch seit Jahrtausenden eine Höhle der Steinzeit betrat. Mit dem Unterschied, dass er den letzten Höhlenmenschen töten würde. Das mochte archäologisch zwar höchst unsensibel sein, aber letztendlich war es auch nur ein netter Vergleich gewesen, der ihm gerade in den Sinn gekommen war.

      Wo war er denn nun, sein Neandertaler? Er musste sich wegbewegt haben. Ein weiterer Scann verriet Rivera, dass sich der Träger des Smartpods im Stockwerk über ihm befand. Entkommen konnte er ihm nicht mehr. Vor lauter Vorfreude fiel sämtlicher Stress von ihm ab und er hüpfte begeistert wie ein kleiner Junge die Treppe hinauf.

      Da war es auch schon, sein Opfer. Es lehnte zusammengekauert an einen Betonpfeiler, die Arme verschränkt, den Kopf in der Kapuze seines Pullovers versteckt. Wahrscheinlich hatte es sich gerade erst zum Schlafen gelegt. Gemächlich schritt der Tod darauf zu, jetzt brauchte er keine Eile mehr an den Tag zu legen. Doch dann blickten ihn zwei müde Augen durch die Dunkelheit an, und eine junge, brüchige Männerstimme fragte ihn unvermittelt:

      »Kennst du Kafka? Franz Kafka? Hast du schon einmal etwas von ihm gelesen?«

      Rivera stutze einen Augenblick, doch dann fand er die Idee ganz reizvoll, mit seiner Beute noch ein wenig zu plaudern. Er blieb vor dem jungen Mann stehen.

      »Es ist absolut grässlich, Kafka zu lesen«, fuhr die müde Stimme seines Opfers fort »Es ist als ob man sich in einem Albtraum befindet oder in einem Fiebertraum. Man schläft dabei jedoch nicht wirklich, sondern befindet sich in einem seltsamen Zustand des Halbwachseins. Es ist ein Zustand, der durchsetzt ist von Momenten der Klarheit, die immer wieder auftauchen und einem Hoffnung geben, diesen Zustand des Halluzinierens, diesen Zustand der Fiebrigkeit zu entkommen. Aber diese Hoffnung ist eine Täuschung, denn aus diesem Traum gibt es kein Entrinnen. Nein, die gibt es nicht. Man glaubt zwar, dass man kurz davor steht, jetzt endlich aus dem Gefängnis auszubrechen, endlich den Gordischen Knoten zu zerschlagen, man denkt, man ist ganz kurz davor, doch dann zieht es einen wieder rein und man ist von Neuem im Albtraum gefangen. Und so geht es ständig weiter. Das ist Kafka, da gibt es keine Gnade.

      Mit Drogen, da ist es genauso. Nie entkommt