New Hope City. Severin Beyer

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Название New Hope City
Автор произведения Severin Beyer
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783957771421



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traf der Polizeibeamte nur auf wenige Seelen.

      Schließlich erreichte Steiner den Block, in dessen Inneren sich das Ming befand. Ohne abzusteigen, rauschte er mit seiner Maschine verbotenerweise durch den Zentralkorridor der Wohnwabe. Über einen Aufzug gelangte er mitsamt Motorrad in den siebten Wabenstock. Dort angekommen, folgte er dem nur spärlich beleuchteten Gangsystem, vorbei an Pennern und Drogensüchtigen. Endlich gelangte er zu einer abgewrackten, in traditionell chinesischen Stil gehaltenen Gebäudefront, über der schief mehrere gelbe Buchstaben hingen, die das Wort »MING« bildeten. Die Schrift bestand richtig oldschool aus LED-Röhren, statt aus einem projizierten Hologramm. Aus energetischer Sicht war das natürlich ein Albtraum. Das war das Ming, das Abbild einer einstigen Hochkultur, die in den Resten ihrer Ruinen vegetierte.

      Der Kommissar aktivierte die biometrische Verriegelung seines Fahrzeugs und ließ sein Motorrad neben den beiden Türstehern zurück. Per Sprachbefehl fuhr sich sein Trenchcoat wieder aus, dessen untere Hälfte während der Fahrt hochgefaltet gewesen war, um nicht in die Speichen zu geraten. Die verlebte, schlecht rasierte Gestalt von Süleyman Steiner war hier bestens bekannt, daher kam er ohne weitere Fragen in die Spelunke. Sofort stieg ihm der aschige Geruch von Zigaretten in die Nase. Es war kein Geheimnis, dass man im Ming den EF-Nichtraucherschutz offen missachtete wie so vieles andere auch. Das war auch einer der Gründe, warum Süleyman diesen Schuppen so gerne aufsuchte: Irgendwann hatte er Dienstende, dann war er kein Polizist mehr. Und das Ming war für ihn schlichtweg die Verkörperung des Dienstendes.

      Zielstrebig setzte er sich an den Tresen unter den goldenen Plastikdrachen, der von der Decke hing, und bestellte einen Drink. Dann drehte er sich auf seinem Barhocker um, sodass er mit dem Rücken zur Bar saß, lehnte sich zurück und genoss den ersten Schluck, der seine Kehle hinunterrann. Von dort sah er den Leuten beim Glücksspiel zu, beim Saufen, Rauchen, Kiffen, sah ihnen dabei zu, wie sie eine Line nach der anderen zogen und sich mit den stets neuesten Pillen und Tickets in andere Realitäten bombten. Es war ihm egal.

      »Nicht viel los heute, hm?«, meinte er schließlich zu Pete, die heute eine Frau war und hinter der Bar die Drinks ausgab »Du, Pete, wo ist Madame Ming? Ich kann sie nirgendwo sehen.«

      »Madame kommt heute später. Ich weiß aber nicht, wann«, versuchte Pete mit weiblicher Stimme zu antworten, was sich allerdings ziemlich absurd anhörte, da ihr Stimmmodulator schon etwas in die Jahre gekommen war. So war es mehr ein burschikoser Bass, ein extremer Widerspruch zur zierlichen Gestalt der gender-fluiden Person.

      »Das macht nichts, dann warte ich. Noch einen White Russian, bitte.«

      »Schon das erste Glas geleert? Du siehst ziemlich müde aus, Süleyman. Harten Tag gehabt?«

      Süleyman rieb sich die linke Schläfe, während er in wenigen Zügen die Reste seines ersten Drinks leerte und sich zu Pete umwandte:

      »Ich habe schon viel krankes Zeug erlebt; im Krieg, als Polizist … Und dabei denkt man immer wieder, dass man schon alles gesehen hätte. Vielleicht hat man das auch, aber trotzdem kommt ständig krankes Zeug dazu, das einen erneut fertigmacht. Ja …«, er besah sich sein leeres Glas und hatte das Gefühl, dass er noch nicht genug getrunken hatte, um dieses Gespräch zu führen. Süleyman war kein gesprächiger Mensch und so war der äußerst dankbar, als ihm die über und über tätowierte Pete seinen zweiten Drink rüberschob. Er rieb sich nachdenklich sein schlecht rasiertes Kinn.

      »Zum Beispiel hatten wir heute wieder einen dieser Mumienmorde. Man sieht noch in die leeren Augen eines dieser ausgebluteten Opfer, dann zerfallen sie auch schon zu Staub. Aber das ist es nicht, was mich fertigmacht, nicht heute. Es ist unser Verdächtiger. Stranger Typ, ist zu 100 Prozent transhuman. Sogar sein Gehirn! Wie kann man sein Gehirn ersetzen? Das ist man doch nicht mehr man selbst.«

      »Man kann sein Hirn auch Stück für Stück durch TransTech austauschen. Dann ist es ein fließender Übergang, bis am Ende die Persönlichkeit vollkommen in die Technik übergegangen ist. Das hat doch vor kurzem auch dieser eine brasilianische Geschäftsmann gemacht. Dieser Philanthrop mit dem letzten Stück Regenwald, glaube ich. Mit fällt sein Name gerade nicht ein …«

      Pete war die Person mit dem umfangreichsten Halbwissen, die Steiner je kennengelernt hatte. Die Gender-Fluide war wie ein Schwamm, der alles in sich aufsog, was man ihm erzählte. Den restlichen Abend sagte Steiner nichts mehr. Für eine tiefergehende Diskussion fehlten ihm schlicht Kraft und Wille. Irgendwann fand Pete an der Stelle, an der der Kommissar gesessen hatte, das Geld für die Drinks. Er zahlte nie per App, ziemlich altertümlich, aber im Ming machten das viele so. Nachdem ein Virus vor Jahrzehnten das internationale Finanzsystem gecracht hatte, hatte das gute alte Papiergeld eine wahre Renaissance erlebt, die bis heute anhielt.

      Das Trinkgeld war zwar nicht gerade üppig, aber in Ordnung. Auch wenn sie damit ihrem neuen Stimmmodulator nicht viel näher kam, half es Pete dabei, über die Runden zu kommen. Dass sie Steiner nirgendwo mehr entdecken konnte, sprach dafür, dass Madame Ming zurückgekehrt war.

      *

      Aggression. Die unbändige Lust, die Visagen vorbeilaufender Passanten einzuschlagen, tobte ihn ihm. Das Dröhnen von Presslufthammern, das den Sound des Songs Iss dein Selbst der Band Plattenbaubeben bestimmte, wummerte in seinem Kopf. Er spielte den Song direkt in seinem Gehirn, sodass nur er ihn hörte.

      Seitdem ihn seine Anwälte aus der Polizeiwache geholt hatten, brodelte es in ihm, seine Wut war kaum zu zügeln. Mühsam hielt er sich zurück, um nicht wahllos Löcher in Wände zu schlagen und laut loszubrüllen. Wer hätte auch gedacht, dass ihm so ein Ding zuvorkommen würde? Er hatte dieser aufgedonnerten Person mit ihren hochgesteckten, schreiend grünen Haaren schon die Hände um den Hals gelegt gehabt. Der Druck seiner Hände auf ihre Kehle hatte jeden Hilfeschrei erstickt. Sogar diese seltsame Zärtlichkeit für sein Opfer hatte Rivera bereits durchzuckt, die ihn immer elektrisierte, wenn er die Anstrengungen seiner Beute betrachtete, sich an ihr Leben zu klammern.

      Doch dann war plötzlich dieses Ding gewesen, dieser Tentakel. Er war unerwartet hinter seinem Opfer hochgeschossen und hatte sich dessen Kopf geschnappt. Einfach so aus dem nichts! Zuerst hatte Rivera überhaupt nicht geschnallt, was da geschah. Erst als sich die Augen seines Ofers nach oben gedreht hatten, hatte er erschrocken den noch zuckenden Körper von sich gestoßen und aus sicherem Abstand beobachtet, was diese technische Abnormität mit seiner Beute anstellte.

      Nachdem der erste Schreck von ihm gewichen war, hatte ihn jedoch beim Anblick dieser Kreatur eine gewisse Faszination überkommen. Diese erbarmungslose und unaufhaltsame Art des Tentakels hatte ihn schlicht verzückt. Nach weniger als einer Minute war das Ding schon wieder im Abfluss verschwunden, aus dem es gekommen war. Als ob es Rivera gar nicht bemerkt hätte.

      Nur warum hatte er die Polizei gerufen? Es hatte absolut keine Notwendigkeit dazu bestanden. Alle Kameras, die ihn beim Betreten der Toilette gefilmt hatten, hatte er manipuliert, sogar die der kleinen Flugdrohne, die über dem Erasmus kreiste. Niemand hätte ihn mit diesem Mord in Verbindung gebracht, er hätte einfach nur den Ort verlassen müssen, als ob nichts gewesen wäre. Stattdessen war er nun der Hauptverdächtige! Und hätte er sich nicht einmal selbst zurücknehmen können, zumindest dem Kommissar gegenüber, der ihn verhört hatte? Einfach etwas freundlicher sein oder gar verängstigt wirken?

      Rivera verfluchte seine Dummheit und Überheblichkeit, wegen der er nun den gesamten Tag damit verbracht hatte, Abstand zwischen sich und dem Ereignis am Erasmus zu bringen. Zuerst hatte er, der er normalerweise für die Augen der Kameras, den Augen der Stadt, unsichtbar war, seinen Weg zu seiner Alibi-Wohnwabe in der Undercity aufzeichnen lassen. Zumindest soweit sein Nachhauseweg das Blickfeld von Argus durchkreuzte. Die Polizisten würden ihn bestimmt überwachen. Weitere Unstimmigkeiten zu seiner Person brauchten ihnen nicht aufzufallen.

      War es vielleicht der Schreck gewesen, dass dieses Ding auch ihn hätte erwischen können? Oder war es noch viel primitiver, und er konnte einfach nur keinen anderen Killer neben sich dulden? Wie dem auch war, nachdem er seine Wabe erreicht hatte, hatte Rivera sie den restlichen Tag über nicht mehr verlassen. Obwohl er die Hologramm-Umgebung seiner Wohnwabe in einen nächtlichen Dschungel verwandelt hatte, war es ihm unmöglich gewesen, sein Körpersystem in einen schlafähnlichen Zustand zu versetzen.