Die Wiege des Windes. Ulrich Hefner

Читать онлайн.
Название Die Wiege des Windes
Автор произведения Ulrich Hefner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264225



Скачать книгу

du?«, fragte Jean mit französischem Akzent.

      »Ach, nichts … Ich dachte gerade nur an einen Freund von mir«, antwortete Rike.

      »Okay, there’s nothing more to do, let’s go back«, sagte Bob.

      Mit feuchten Augen wandte sich Rike ab. Die Arctic Sunrise wartete auf sie.

      *

      Dr. Thomas Esser, stellvertretender Direktor der Bezirksregierung Weser-Ems, war Landtagsabgeordneter der Grünen gewesen, bis er bei der letzten Wahl seinen Sitz verlor und an seinen Schreibtisch nach Oldenburg zurückkehren musste. Er hatte noch immer sein Parteibuch und war von den Programmen seiner Partei überzeugt. Vor allem lag ihm der Schutz der Küste und des Wattenmeers am Herzen. Nun stand er der Nationalparkverwaltung Wattenmeer in Wilhelmshaven vor. Vielleicht, so dachte er oft, war es ein Wink des Schicksals, dass er seinen Platz im Landtag hatte aufgeben müssen. Als verantwortlicher Leiter der Nationalparkverwaltung konnte er viel mehr für die Umwelt und seine Überzeugungen tun.

      Obwohl es seit dem gestrigen Abend in Oldenburg regnete, war er wie jeden Tag mit seinem Fahrrad von Bürgerfelde zur Arbeit gefahren. Wenn es auch kalt und ungemütlich war, diesen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt ließ er sich nicht nehmen. Den Bus benutzte er nur, wenn die geschlossene Schneedecke das Radfahren nicht mehr zuließ.

      Vor vielen Jahren, als er noch jung und ungebunden gewesen war, mit langen Haaren und mit grünem Parka, hatte er Stunden im Wind und im Regen zugebracht. In Camps, in wilden Lagern und Zelten. Vor Gorleben, an der Startbahn West bei Frankfurt oder im Hamburger Freihafen, er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, den Regierenden sein klares »Nein« zu ihren Entscheidungen entgegenzuschreien.

      Vielleicht war er reifer geworden – oder vielleicht resultierte die Verlagerung seiner Aktivitäten aus einem längeren Gespräch mit seinem Vater, der ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass er kein Geld mehr erhalten werde, wenn er sich nicht endlich selbst um seine Zukunft kümmerte. Natürlich hatte zunächst der Rebell in ihm gesiegt, schließlich gehörte sein Vater als erfolgreicher Zahnarzt dem Establishment an, das er damals zutiefst verachtete. Letztlich siegten die Einsicht, der Hunger und die Vernunft.

      Er hatte Jura studiert – denn »Biologie hat keine Zukunft!«, hatte sein Vater getönt – und gelernt, seine Ideologien in demokratischer und konstruktiver Form zu vertreten. Er heiratete, tauschte den grünen Parka mit einem dunklen Anzug. Machte sein Praktikum am Amtsgericht in Oldenburg, knüpfte Kontakte und begann seine Karriere bei der Bezirksregierung. Und nach dem kurzen Ausflug in die Landespolitik hatte ihm nun der Bezirksdirektor die Aufsicht über die Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer in Wilhelmshaven übertragen. Eine Aufgabe, die er mit Freude übernahm.

      Sein Dienstsitz blieb in Oldenburg, doch jetzt hatte er endlich das Gefühl, in seine Vergangenheit zurückgekehrt zu sein. Er war seinen Überzeugungen und seinen Prinzipien wieder ganz nahe.

      Doktor Thomas Esser fuhr mit seinem Rad über den freien Platz, vorbei am schmucklosen Tannenbaum mit den hellen Glühbirnen, der in aller Eile aufgestellt worden war, und wunderte sich, dass vor dem Haupteingang zwei Streifenwagen und ein grauer Audi standen. Was war hier passiert?

      *

      »Da ist er ja endlich!« Horst Liebler zeigte auf den hageren Hünen, der die Halle durch die Glastür betrat und auf die Aufzüge zuging.

      Kriminaloberrat Kirner wandte sich um. »Das ist Doktor Esser?«, fragte er den Verwaltungsbeamten.

      Liebler nickte und hielt Esser auf. »Stell dir vor, was passiert ist! Sie haben eine Briefbombe in der Post gefunden. Wir mussten alle unseren Arbeitsplatz räumen, bis das Kuvert abtransportiert war. Alles war in heller Aufregung.«

      »Guten Morgen, Herr Doktor Esser.« Kirner streckte dem Leiter der Nationalparkverwaltung seinen Dienstausweis entgegen. »Mein Name ist Kirner, ich bin vom Landeskriminalamt. Ist es möglich, dass wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

      Mit dem Aufzug fuhren sie in den zweiten Stock, dort befand sich Essers Büro.

      »Kann ich erfahren, was genau passiert ist?«, fragte Esser.

      »Eine Mitarbeiterin Ihrer Poststelle hat in der Tagespost ein Kuvert entdeckt, aus dem ein helles, kristallines Pulver gerieselt ist«, erklärte Kirner, nachdem beide Platz genommen hatten. »Ihr kam das verdächtig vor, deshalb hat sie die Polizei verständigt. Tatsächlich handelt es sich bei dem Pulver um Kaliumchlorat, einen leicht entzündlichen Stoff, der schon bei geringsten Verunreinigungen oder Berührungen reagieren kann. Da es sich hier um eine staatliche Organisation handelt, wurden wir hinzugezogen. Unsere Spezialisten haben bestätigt, dass es sich um eine Briefbombe handelt. In einem innen liegenden zweiten Kuvert befindet sich offenbar eine weitere Substanz. Über eine kleine Knopfzelle, ein Blitzlicht ohne Abdeckung und eine elektrische Schaltung sollte das Päckchen gezündet werden. Ich hoffe, dass wir das Paket entschärfen können und nicht sprengen müssen. Dann gibt es vielleicht einige Spuren, die uns weiterhelfen.«

      Esser sank sichtlich erschüttert in seinem Stuhl zurück. »Wer sollte die Bombe öffnen?«

      »Der Brief war ausdrücklich an Sie persönlich adressiert.«

      Aus Essers Gesicht wich allmählich die Farbe und machte einem Grauton Platz. »Ich … wieso ich …?«

      »Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen?«

      Esser schüttelte den Kopf. »Was wäre passiert, wenn …«

      »… wenn Sie den Umschlag geöffnet hätten?«, fiel ihm Kirner ins Wort. »Ersten Schätzungen nach dürften sich etwa fünfzig Gramm Sprengstoff im Inneren des zweiten Kuverts befunden haben. Das hätte eine ordentliche Explosion gegeben.«

      Esser schluckte. »Ich glaube, mir wird schlecht.« Er erhob sich und ging an einen Aktenschrank, öffnete die untere Schranktür und holte eine Flasche Cognac hervor. Er schenkte ein Glas voll und leerte es in einem Zug.

      »Haben Sie Feinde?«

      »Natürlich macht man sich Feinde, wenn man einen solchen Posten ausfüllt«, erklärte Esser. »Fischer, die gerne in manchen Schutzzonen fischen würden, Umweltfanatiker, denen unsere Verordnungen nicht weit genug gehen. Es gibt da eine große Zahl von Leuten, denen man hier und da auf die Füße treten muss. Aber deswegen eine Briefbombe?«

      »Gab es in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches, wurden Sie bedroht?«

      Esser öffnete eine Schreibtischschublade, nahm ein Bündel Briefe heraus und warf sie auf den Tisch. »Wer etwas tut, schafft sich automatisch Gegner. Nur wenn Sie still sind und sich aus allem heraushalten, dann passiert so was nicht.«

      Kirner starrte wie gebannt auf ein großes, graues Kuvert mit drei kleinen, blauen Delfinen in der linken oberen Ecke. »Woher haben Sie das?«

      »Der kam vor drei Wochen mit der Post.« Esser wollte nach dem Umschlag greifen, doch Kirner sprang auf und packte ihn an der Hand.

      »Von wem?«

      »So eine Umweltschützerin. Darin befand sich eine lange Studie, über die negativen Auswirkungen des zunehmenden Tourismus auf die Flora und Fauna des Wattenmeers. Wieso ist das so wichtig?«

      Kirner griff in seine Jackentasche und holte ein Polaroidfoto heraus, das die Briefbombe mit den gleichen kleinen Delfinen auf dem Kuvert zeigte. Kommentarlos reichte er es Esser.

      4

      Das Haus schwieg. Im Flur, im Wohnzimmer, in den Zimmern im Obergeschoss und vor allem im Kinderzimmer, überall nur lastende Stille. Trevisan saß in seinem Ohrensessel und hielt die Augen geschlossen. Sie waren feucht. Alles um ihn herum erschien sinnlos, dem Tod näher als dem Leben. Grit hatte sich von ihm getrennt. Sie hatte Paula mitgenommen. Paula, die ihm alles bedeutete. Vor einem Monat war sie elf Jahre alt geworden. Er hatte sie angerufen und danach hatte er sich sinnlos betrunken. Sie fehlte ihm. Er fühlte sich einsam und verlassen.

      Der Heilige Abend war angebrochen, doch in diesem Jahr zog kein Bratenduft durch den Flur, kein Weihnachtsbaum schmückte