Great again?. Julia Kastein

Читать онлайн.
Название Great again?
Автор произведения Julia Kastein
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783963114908



Скачать книгу

kleinen Musikbühne, den schlichten Holztischen, den Jagdtrophäen und den gerahmten Aphorismen (»Alkohol! – Weil keine gute Geschichte je mit einem Salat begonnen hat.«) ist der Treff der Alteingesessenen. Eine Familie mit zwei Kindern macht sich über Burger und Pommes her. Mit meiner Maske werde ich von den Gästen halb belächelt, halb misstrauisch beäugt – weil außer mir niemand eine trägt. Selbst Wirt Gary Riggs, mit Baseballkappe und grauem Bart, verzichtet auf einen Gesichtsschutz. Obwohl er ihn gebrauchen könnte, wie er mir verrät: »Ich bin in der Hochrisikogruppe, 63 Jahre alt, hatte schon drei Herzinfarkte. Aber wenn ich das Virus jetzt bekäme, würde ich nicht sagen: ›O Gott, warum ich?‹ – Sondern: ›Okay, ich bin jetzt dran.‹«

      Auch für Gary waren die vergangenen Monate im Lockdown schwer. Er versuchte vergeblich, einen Kredit aus einem der Hilfsprogramme für Kleinunternehmer zu bekommen: »Zwei Monate lang habe ich immer wieder dort angerufen und musste jedes Mal wieder einer anderen Person die gleichen Informationen geben. Und dann haben sie es schließlich abgelehnt, weil wir keine ›Credit History‹ haben.«

      Credit History ist das US-Äquivalent der Schufa-Auskunft. Mit einem entscheidenden Unterschied: Kreditwürdigkeit bekommt man hier erst bescheinigt, wenn man schon mal einen Kredit hatte oder wenigstens eine Kreditkarte, die man regelmäßig abbezahlt. »Aber wenn man eine Bar in West Virginia aufmacht, dann bekommt man von keiner Bank einen Kredit.« Gary schüttelt genervt den Kopf.

      Die politischen Entscheidungen während der Corona-Pandemie sieht Gary kritisch: »Manches hat einfach keinen Sinn gemacht: Dieses Rigorose und wie dann die Regierung entschieden hat, was systemrelevant ist und was nicht.«

      Obwohl Gary das »watering hole«, also die Bar für die Einheimischen betreibt: der ehemalige Polizist selbst zog erst vor sechs Jahren aus Florida hierher. Gemeinsam mit seiner Frau, die aus West Virginia stammt: »Das Leben hier ist ein bisschen langsamer und alle achten aufeinander. Als diese ganzen Unannehmlichkeiten wegen Corona anfingen, da haben wir zusammengehalten. Anderswo wurde das Toilettenpapier knapp. Hier hat irgendeine gute Seele immer Klopapier vor das Postamt gelegt. Und wer eine Rolle gebraucht hat, hat sich bedient. Und wer es nicht brauchte, hat es liegen lassen. So ist das hier. Wie kann man das nicht lieben?«

      Die Leute in diesem Landstrich seien anders, sagt Gary: »Uns ist es egal, mit wem du ins Bett gehst. Uns ist es wurscht, ob du einen Titel hast oder wen du wählst. Wir nehmen die Leute, wie sie sind. Und wir kommen miteinander aus.«

      Im Rest der USA gilt West Virginia als »Trump Country«. 68,5 Prozent der Menschen stimmten für den Republikaner; nirgendwo sonst war der Vorsprung vor Hillary Clinton so groß wie hier. In Tucker County holte Donald Trump sogar 73 Prozent. Auch Gary Riggs machte sein Kreuzchen für den Präsidenten. Jetzt bereut er das – aber nur ein bisschen: »Er hat für ziemlich Verwirrung gesorgt. Er twittert einfach zu viel. Aber das war ja von Anfang sein Problem. Und je nachdem, welchen Kanal man wann guckt, hat er entweder einen guten Job gemacht oder total versagt. Anfangs sah es so aus, als ob er bei Corona zu schnell handelt. Und jetzt, im Rückblick hat er nicht schnell genug gehandelt.« Gary zuckt mit den Schultern: »Ich bin froh, dass ich nicht Präsident bin.«

      Noch hat sich Gary nicht entschieden, für wen er im November stimmen wird. Aber er ist sich trotzdem ziemlich sicher, dass Trump auch ohne seine Unterstützung wiedergewählt wird: »Man sieht hier immer noch viele Trump-Fahnen.«

      Seth, der Künstler aus Michigan, warnt davor, alle Bewohner von West Virginia über einen Kamm zu scheren. »Natürlich gibt es hier viele Trump-Unterstützer, das sieht man ja an den Zahlen. Aber in diesem Staat gibt es auch sehr viele unabhängige Geister. Und ich glaube, viele haben Trump gewählt, weil er der Anti-Establishment-Kandidat war. Und das Gleiche gilt für alle Staaten, in denen die Leute schlecht behandelt und ausgebeutet wurden. Die Menschen misstrauen der Politik. Aus gutem Grund, denn sie sind schon so oft enttäuscht worden.«

      Eine Anti-Corona-Maßnahme war in West Virginia – wie in den gesamten USA – besonders umstritten: das Verbot von Gottesdiensten. In West Virginia galten religiöse Einrichtungen zwar als »systemrelevant« und durften theoretisch Messen und Andachten abhalten, aber auch für Kirchen galt die Obergrenze von maximal zehn Teilnehmern. Im Mai wurde dieses Gebot wieder aufgehoben. Und Jay Bunting konnte wieder fast wie gewohnt seiner Arbeit nachgehen: als Pfarrer der Methodistenkirche von Thomas.

      Die drei Kirchen des Ortes thronen auf dem Hang über der Stadt. Das Gotteshaus der Methodisten ist ein schlichter weißer Holzbau. Jay, der mit seinem langen roten Bart an Rübezahl erinnert, betreut nicht nur diese Gemeinde, sondern auch drei weitere in der Region.

      Bevor wir hineingehen, ziehe ich mir meine Maske auf. Jay winkt ab: »Von mir aus müssen Sie keine Maske tragen.« Rechts neben dem Eingang steht die US-Flagge. Links an der Wand hängt die Fahne von Israel. Unter dem Holzpult lehnt ein Schild mit der Aufforderung: »Bete!« Wir setzen uns auf eine der stoffbezogenen Kirchenbänke. Auch auf Abstand legt Pfarrer Jay keinen Wert – obwohl er zugibt, dass seine Ärzte das nicht gerne sehen: »Ich hatte Krebs. Aber ich sage mir: ›Wenn Gott mich jetzt zu sich holen will, dann ist das eben so.‹ Ob man nun an Covid-19 stirbt oder durch einen Blitzschlag oder bei einem Autounfall. Wenn die Zeit gekommen ist, ist die Zeit gekommen.«

      Im Gottesdienst aber hält sich auch Jay aus Rücksicht auf die Gemeinde an die vom Bundesstaat empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen. Keine Gesangbücher, weil Singen wegen der fliegenden Tröpfchen zu gefährlich ist. Abstand auf den Kirchenbänken. »Wir mussten uns was Neues ausdenken. Unser Pianist hat einfach ein paar von den alten Hymen angespielt. Und die Gemeinde musste raten. Er hat uns ganz schön zum Grübeln gebracht. Ein paar von den älteren Frauen meinten: ›Was spielt er da?‹ Ich habe auch nicht alle erkannt …«

      Jay, der aus dem Nachbarstaat Maryland stammt und wie Seth an den Menschen in West Virginia ihre Neigung zum Widerspruch schätzt, macht aus seiner Meinung zu den Anti-Corona-Maßnahmen kein Hehl: Alles völlig übertrieben. »Ich bin seit 25 Jahren Pfarrer. Ich habe Gemeinden während SARS betreut, während der Schweinepest. Und das war viel schlimmer. Wenn man H1N1 bekommen hat, dann war das ein Todesurteil. Aber bei Covid hat man eine Überlebenschance von 98 Prozent.«

      Ich widerspreche Jay nicht. Aber die Fakten tun es. Laut »Centers for Disease Control« gab es in den USA im ersten Jahr der Schweinepest 12 000 Tote. An Covid-19 starben allein in den ersten drei Monaten über 100 000 Menschen. Und auch die Sterberate ist bei Covid-19 deutlich höher: 1,3 statt 0,001 Prozent.

      Doch der wirtschaftliche Stillstand und die Lockdown-Regeln seien mindestens so gefährlich wie das Virus selbst, findet Jay: »Wenn man so lange ans Haus gefesselt ist und nichts mehr machen darf, dann ist dies das Todesurteil für Leute, die sowieso schon an Depressionen leiden.« Erst vor ein paar Tagen habe ihn eine Frau angerufen, deren Sohn sich deshalb das Leben genommen habe.

      Jay fürchtet, dass das Corona-Virus dem Ort endgültig den Todesstoß versetzen könnte – ohne, dass überhaupt viele Menschen hier erkrankt sind: »Der Tourismus ist nach dem Ende der Kohle das Einzige, was die Gegend am Leben hält. Eines der letzten großen Sägewerke hat gerade dichtgemacht. Dadurch drohen auch die verbliebenen Druckereien einzugehen. Wenn die Jobs weg sind – wo sollen die Familien dann hin?«

      Angst vor dem Virus. Und Angst vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Nicht nur in Thomas wird das von vielen als Gegensatz gesehen. Umfragen zeigen: Republikaner haben mehr Angst um die Wirtschaft. Und Demokraten mehr Angst um die Gesundheit.

      John von der »Purple Fiddle« hat Angst vor beidem: dem Virus und was es für seine Zukunft bedeutet. Zu Beginn der Pandemie sei er völlig verzweifelt gewesen, erzählt er mir. Inzwischen ist sein Kampfgeist zurückgekehrt. Auf seiner Webseite bewirbt er immer noch Konzerte, von denen er nicht weiß, ob sie stattfinden können. Aber er ist sich sicher: »Wir werden überleben.«

      III

      Zerrissenes Land, oder:

      Warum Nancy und Dick nur selten über Politik diskutieren

      SEBASTIAN HESSE-KASTEIN

      »Da sind sie: die widerlichen Fake-Fake-News-Journalisten!«, brüllt der Präsident der Vereinigten Staaten. Und zeigt mit dem