Great again?. Julia Kastein

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Название Great again?
Автор произведения Julia Kastein
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783963114908



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Einwohnern gab es bis Anfang Juni nur gut 2 000 Covid-19-Fälle. Und 78 Tote. Zum Vergleich: In Hamburg mit nur wenig mehr Einwohnern waren es über 5 000 Fälle und über 200 Tote. Schon vor Corona war dieser dünn besiedelte ländliche Bundesstaat der viertärmste in den USA. Im Februar lag die Arbeitslosenquote hier bei 5 Prozent. Im Mai waren es 15 Prozent. In Tucker County, zu dem auch Thomas gehört, sind es sogar 18 Prozent.

      Ich treffe John Bright, den Besitzer der »Purple Fiddle« auf der Terrasse der Kneipe. Die Picknicktische stehen in großem Abstand. Werktags ist immer noch geschlossen.

      Die »Purple Fiddle« ist ein rostroter Bau mit lila Holzsäulen und einer langen Geschichte. Sie war nicht immer Konzertkneipe, erzählt John stolz. 1915 wurde das Gebäude von der Familie DePollo gebaut. Die DePollos waren Einwanderer aus Italien, die wie so viele in dieser Zeit in der boomenden Bergbauregion ihren amerikanischen Traum verwirklichten. Bis in die frühen 1990er Jahre betrieb die Familie, inzwischen in der dritten Generation, in Thomas einen »General Store«. Der riesige schwarze Safe von damals, mit geschwungenen Füßchen und Messingbeschlägen, steht immer noch neben der Eingangstür. »Das hier war der Walmart von Thomas. Hier gab es alles: Lebensmittel, Bier, Stiefel, Helme, Lampen«, erzählt John.

      Ein Laster mit Baumstämmen dröhnt vorbei. Die pittoreske Hauptstraße von Thomas ist offiziell ein Highway. Der gesamte Verkehr, der von Westen in Richtung Ostküste will, donnert hier durch. Früher waren auch viele Kohlelaster dabei. Die Zeiten sind lange vorbei: Die Flöze unter dem Stadtgebiet sind längst erschöpft. In ganz Tucker County gibt es nur noch einen einzigen aktiven Bergbau.

      Der Niedergang kam langsam: In den 1910er Jahren, als nach einem Stadtbrand die meisten Häuser entlang der East Avenue, der Hauptstraße, neu gebaut wurden, lebten 2 500 Menschen in Thomas. 1940 waren es noch rund 1 400, zwei Jahrzehnte später dann nur noch 800 Menschen. Um die Jahrtausendwende schien sich der Trend kurzfristig zu drehen: Von 450 stieg die Einwohnerzahl wieder auf 580.

      In dieser Zeit ließ sich auch John Bright in Thomas nieder: »Das war kurz nach dem 11. September 2001, also der letzten nationalen Krise. Ich habe damals in Charleston, West Virginia, gelebt. Da gibt es viel Chemieindustrie. Und ich hatte Angst, dass es ein Terrorziel werden könnte. Auf dem Land schien es mir und meiner damaligen Frau viel sicherer. Deshalb haben wir uns hier umgesehen.«

      John, der früher als Fotojournalist für den Gouverneur von West Virginia arbeitete, zieht eine Grimasse: »Also, eigentlich war es natürlich total idiotisch, einen sicheren Job aufzugeben und stattdessen so was hier zu riskieren. Aber man lebt nur einmal und hat nur eine Chance, seinen Lebenstraum zu erfüllen.«

      Mit seinem Kurzhaarschnitt, der getönten Brille und dem blau gemusterten kurzärmeligen Hemd sieht der 56-Jährige so gar nicht aus, wie ich mir einen musikverrückten Aussteiger in der Provinz vorgestellt habe. Er sei auch kein Musiker, sagt John, sondern nur Musikliebhaber. »Ich würde alle Eltern davor warnen, ihren Kindern etwas ausreden zu wollen. Als ich fünfzehn war, habe ich all mein Taschengeld in Alben investiert. Meine Mutter hat mich dann immer ausgeschimpft: Warum verschwendest du so viel auf die Musik. Und jetzt habe ich eine Konzertkneipe und buche die Bands, die hier spielen.«

      Über zehn Jahre hat John gebraucht, um aus der »Purple Fiddle« einen überregional bekannten Musiktreff zu machen, der Bands und Publikum von der gesamten Ostküste anzieht. Jetzt fürchtet er um sein Lebenswerk: »Wir sind eigentlich als Konzertschuppen bekannt. Und wir haben keine Ahnung, wann wir wieder Konzerte, Livemusik machen können.« Zwar darf John die Terrasse seit ein paar Wochen wieder bewirtschaften, aber noch sind die Touristen nicht zurück, die hier im malerischen Canaan Valley im Sommer wandern und im Winter Ski fahren. Um über die Runden zu kommen, jobbt John nebenher als Pizzalieferant. Und er hat die laufenden Kosten so weit wie möglich gesenkt: Statt neun Kühlschränken laufen nur noch zwei. Auf Satellitenradio und -fernsehen verzichten er und sein 17-jähriger Sohn jetzt auch erst einmal. Und seine zwölf Mitarbeiter musste John gehen lassen: »Die Regierung zahlt den Leuten gerade mehr, um zu Hause bleiben, als ich ihnen hier an Lohn geben kann. Sie kriegen sechshundert Dollar zusätzlich Arbeitslosenhilfe. Also warte ich, bis diese Programme auslaufen, damit ich wieder mehr Leute einstellen kann.«

      John ist es ganz recht, dass noch nicht so viele Leute kommen: Er hat Angst, dass sich jemand anstecken könnte. »Ich glaube nicht, dass wir vorsichtig genug sein können. Sonst müssen wir nur wieder in den Lockdown gehen. Ich weiß, viele Leute sagen: ›Wir hätten nie alles dicht machen sollen, der Schaden für die Wirtschaft ist zu hoch.‹ Aber kann man wirklich ein Leben in Dollar aufwiegen?«

      Seth Pitt sieht das ganz ähnlich. Der Mittdreißiger in kunstvoll verknautschtem Lederhut und Designerleinenhemd würde perfekt in den Biergarten der Leipziger Baumwollspinnerei passen. Stattdessen lebt der Künstler und Galerist seit fünfzehn Jahren in Thomas. »Ich bin aus einer Laune heraus hier gelandet: Irgendjemand hat mir erzählt: ›Du wirst es lieben. Die Mieten sind niedrig. Es gibt einen guten Job.‹ Und als ich herkam, haben mir die Leute so gut gefallen. Die Landschaft ist schön. Aber vor allem ist es einfach eine tolle Gemeinschaft hier.«

      Inzwischen hat Thomas eine Kunstszene, die man eher in einem urbanen Hipster-Viertel als in der Provinz vermuten würde. Die Galerien, eine Textildesignerin, ein Laden mit Kunstbedarf. Auch der Fotograf John Ryan »J. R.« Brubaker, der in Belgien Kunst studiert hat, lebt jetzt hier. Dabei wollte er ursprünglich nur einen Freund besuchen: »In den ersten 72 Stunden hier habe ich mich zu Hause gefühlt und Freunde gefunden. Es ist eine unheimlich kreative und inspirierende Umgebung und noch dazu mitten im Wald.« J. R., mit grau werdendem Vollbart und Fidel-Kappe, spielt mit der Stoffmaske um seinen Hals. »Damals war hier noch gar nichts los. Und auch das hat mich angezogen. Ich habe vorher in einer Stadt gelebt und brauchte mehr Platz für ein Atelier. Und ich wusste: Ich will nicht nur Kunst machen, sondern sie auch zeigen.«

      Die Michigan-Connection – viele der rund dreißig Kreativen in Thomas stammen wie Seth und J. R. aus dem mittleren Westen – dominiert nicht nur optisch das Bild der historischen Altstadt von Thomas. Die Künstler sind auch wirtschaftlich wichtig für den Ort: Die Ausstellungen und Rundgänge ziehen hunderte Besucher an. Kundschaft für die Trödelläden und das »Tip-Top«-Café, in dem der Cappuccino mit Sojamilch so schmeckt und so viel kostet wie in Brooklyn oder Pacific Heights. Und die Künstler investieren: Seth und J. R. haben die Häuser gekauft. Sie arbeiten im Erdgeschoss und wohnen oben drüber. »Wir wollen damit auch das übliche Narrativ vermeiden: Dass erst die Künstler kommen, dann die Gentrifizierung einsetzt und die Kreativen sich dann die Mieten nicht mehr leisten können«, erklärt Seth.

      Bis zum Corona-Lockdown schmiedete das Künstlerkollektiv schon den nächsten Plan: Gemeinsam wollen sie das Haus kaufen, in dem sie den »White Room« eingerichtet haben, gleichzeitig Atelierhaus und Galerie. Das Geld dafür sollte auch beim jährlichen »Art Spring«-Festival verdient werden. Doch das wurde abgesagt. Noch lassen Seth, J. R. und die anderen niemand Fremden ins Atelier.

      Zum Interview treffen wir uns deshalb an einem Picknicktisch am Rail Trail, der ehemaligen Bahnstrecke zwischen dem Black Water River und der Hauptstraße. Früher dampften hier die Kohlezüge durch. Die Schienen sind längst verschwunden. Jetzt summen ein paar Hummeln über der Wiese.

      »Zwischen Mai und September ist unsere Hauptsaison, da verkaufen wir am meisten. Also ist schon eine schwierige Zeit, geschlossen zu sein«, sagt J. R. »Aber mir fällt es echt schwer zu sagen: Wir machen unsere Kunsträume auf, wenn das irgendein Risiko birgt.«

      Die Künstler haben ihr Konzept umgestellt. Wir spazieren die paar Meter hoch zu Seths Galerie: Abstrakte Grafiken hängen neben fast naiven Aquarellen und experimenteller Fotografie – ein stilistischer Wildwuchs von verschiedenen Künstlern aus dem Ort. Eine Schaufensterausstellung, für die wenigen Besucher, die sich schon her trauen. Aber vor allem eine Online-Show, sagt Seth: »John Ryan hat eine Seite gebaut, dort stellen wir jetzt aus. Und versuchen uns mit den sozialen Netzwerken anzufreunden – was wir bislang eigentlich vermieden haben.«

      Im Umgang mit der Pandemie spiegelt sich in Thomas die Zerrissenheit der Nation. Die zugezogenen liberalen Künstler in der historischen Altstadt tragen Maske und sind sehr vorsichtig. Aber nur zweihundert Meter weiter den Hang hinauf ist von Corona-Ängsten nichts mehr zu sehen oder zu spüren.