Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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in der Kälte gestanden und auf den Bus gewartet habe, habe sie sofort gemerkt, dass sie sich was weggeholt hatte, sagte Heidi. Drei Stunden habe dieses beschissene Manöver „Schneeflocke“ gedauert, drei Stunden sei sie durch den tiefen Schnee ihren Schülern hinterher getappt.

      „Die Marschkolonne übers Feld, auf dem der Wind eisig pfiff, wurde von einem Jungen aus der achten Klasse angeführt. Er ging mit seinem Luftgewehr, das er geschultert hatte, offimäßig voran, und wir folgten ihm durch den knietiefen Schnee. Als wir verschwitzt in einem Steinbruch ankamen, mussten meine Schüler auf Luftballons schießen“, erzählte Heidi. „Nach der Schießstation ging es zurück in die Schule. Auf dem Schulhof stand eine dampfende Gulaschkanone, und für jeden gab es einen Teller Bohnensuppe.“

      Danach hätten sie alle durchfroren und mit nassen Füßen auf den Schulbus gewartet, der ewig nicht kam, erboste sich Heidi noch immer.

      „Wenn das beschissene Manöver ‚Schneeflocke‘ nicht gewesen wäre, würde ich jetzt nicht mit dieser unangenehm-schmerzhaften Blasenentzündung im Bett liegen“, motzte Heidi.

      In ihr dickes Federbett gemummelt, fragte sie, wie Wolfgang mit seiner Arbeit vorankäme und versuchte, ihm gute Ratschläge zu geben. Mit fiebernasser Stirn riet sie ihm, so viel wie möglich Fakten zu sammeln, die sich exakt auswerten ließen, und sie legte ihm dringend ans Herz: „Lass dich auf keinen Fall zu vorschnellen Verallgemeinerungen hinreißen. Und vermeide allzu subjektive Meinungsäußerungen. Das hat man in wissenschaftlichen Arbeiten nicht gern.“

      Ob man es gern hatte oder nicht, Wolfgang würde seine Arbeit auf jeden Fall mit einem Affront gegen die lahmarschige Literaturwissenschaft der DDR beginnen, und er wusste auch schon wie. Als Autor wollte er etwas bewegen, etwas umstürzen wollte er, und das las sich dann so: „Statt einer Monographie über den Dramatiker Claus Hammel, der zwischen 1962 und 1967 fünf Stücke schrieb, die allesamt erfolgreich aufgeführt wurden, liegen nur ein paar dürftige Rezensionen vor, und die Umstrittenheit des Stücks ‚Morgen kommt der Schornsteinfeger‘, das das Publikum in ein Für und Wider spaltet, wird von der Kritik weitgehend unterschlagen. Hier offenbart sich, dass die Literaturwissenschaft nur ungenügend auf sozialistische Zeitstücke und Gegenwartsautoren wie Hammel reagiert. Mir scheint, die Literaturwissenschaft wartet darauf, bis Hammel gesehen werden kann, wie wir die Klassiker heute sehen. Wenn die Gegenwartsdramatik nach einer Analyse verlangt, so muss sie heute von uns getroffen werden. Ein Warten auf die nötige Distanz ist ein Warten auf Godot, der nicht kommt.“

      Nach einer Woche strenger Bettruhe war Heidi auf dem Weg der Besserung und half Wolfgang, wie versprochen, seine Staatsexamensarbeit zu einem glücklichen Ende zu bringen.

      Gemeinsam gingen Heidi und Wolfgang das bisher Geschriebene durch, und stundenlang diskutierten sie darüber, was gut herausgearbeitet war, unbedingt überarbeitet oder neu bedacht werden sollte.

      Einig waren sich Heidi und Wolfgang darüber, dass der „Versuch über das Glück“, wie Hammels Stück im Untertitel hieß, ins Zentrum der Betrachtung gestellt werden müsse. Sie konnten sich gut in die Lage der Hauptfiguren hineinversetzen: Jette und Jule waren Mitte zwanzig. Als sie von einem alten Mietshaus, das abgerissen wird, in eine geräumige Hochhauswohnung zogen, glaubten sie, ihr Glück gefunden zu haben. Aber Jette stellte plötzlich fest, dass ihre Arbeit sie nicht glücklich machte. Sie suchte nach dem Glück, konnte es aber weder auf der Seite ihrer früheren Freunde noch auf der Seite ihrer neuen Freunde finden. Auch gelang es ihr nicht, nach dem Umzug, der ein Neubeginn sein sollte, unbelastet von der Vergangenheit zu leben.

      Auch Heidi und Wolfgang sehnten sich nach Zweisamkeit, Liebe und Verständnis, nach einer eigenen Wohnung und nach einer Arbeit, bei der sie Erfüllung spürten.

      Wolfgang und Heidi konnten Jette verstehen, die, im Gegensatz zu Jule, unter Glück etwas anderes verstand als Wohlstand, Arbeit und berufliche Karriere. Auch sie verurteilten Wohlstandsdenken und jene neureichen Schmarotzer, die sich die Mangelwirtschaft der DDR zunutze machten und durch Schwarzarbeit und Schachern ziemlich viel Geld scheffelten. Und im Gegensatz zur Widerstandskämpferin Sellin, einer Figur des Stückes, hielten es Wolfgang und Heidi auch nicht für das große Glück, dass sie im Sozialismus leben konnten.

      Während Wolfgang verstehen konnte, dass Jette Glück empfand, wenn sie die Welt veränderte, konnte Heidi mit Jettes Aussage, dass der Sozialismus für sie Heimat sei, nichts anfangen. Denn unter Heimat verstand Heidi etwas grundsätzlich anderes. Arnsbach war für sie Heimat und nicht der Sozialismus.

      Strittig für Heidi war auch, dass Wolfgang so viel Augenmerk auf das Formale des Stücks legte. Aber für Wolfgang war die Struktur des Stücks das Wichtigste, weil da der Gewinn für sein eigenes Schreiben am größten sei, meinte er. Und wenn Heidi versuchte, unwissenschaftliche Passagen auszumerzen, zeigte sich Wolfgang oft uneinsichtig und sie gerieten in Streit.

      Für das Thema „Die dramatischen und epischen Elemente in ‚Morgen kommt der Schornsteinfeger‘“ hatte sich Wolfgang ja nur entschieden, um ein besserer Theaterdichter zu werden. Zu wenig Dramatik, zu viel Epik hatte man auch seinem Stück angelastet, und so war die Auseinandersetzung mit Claus Hammel eine Art Selbstverständigung. Deshalb verstieg sich Wolfgang oft in Theorien, die unhaltbar waren und mit einer um Objektivität bemühten wissenschaftlichen Abhandlung nichts zu tun hatten.

      „Behauptungen ohne stichhaltige Beweise haben in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nichts zu suchen“, sagte Heidi, und wenn sie nicht so sehr auf Logik und Wissenschaftlichkeit geachtet hätte, hätte Wolfgang seine Staatsexamensarbeit im Übereifer vielleicht noch in letzter Minute versemmelt.

      „In einem Essay kannst du deinen Gedanken freien Lauf lassen. Aber in einer Staatsexamensarbeit hast du nur nachzuweisen, dass du wissenschaftlich arbeiten kannst und ab und an zu interessanten Aussagen kommst“, sagte Heidi. Nicht der Literat sei gefragt, sondern der Germanist, der mit dem literaturwissenschaftlichen Vokabular umzugehen weiß und ein Thema solide und brav abhandeln kann, meinte sie. „Erst die Pflicht, dann die Kür.“

       13. Kapitel

      Den ganzen Februar über hatte Wolfgang in Heidis Mansardenzimmer gesessen und an seiner Staatsexamensarbeit geschrieben, und während dieser Zeit hatte er die Gepflogenheiten im Stillmarkschen Haus, Heidis Eltern und Louis Stillmark wieder ein bisschen näher kennengelernt.

      Heidis Großvater hatte einen dünnen, etwas faltigen Hals, und man hatte den Eindruck, als sei sein Hemdkragen zwei Nummern zu groß. Louis Stillmark trug meistens ein weißes, langärmliges Hemd mit einer anthrazitfarbenen Wollweste darüber, und in seiner Küche roch es nach frisch gekalkter Wand, Bratkartoffeln und Zigarrenrauch.

      Wenn Wolfgang tagsüber Langeweile verspürte oder mit seiner hochwissenschaftlichen Arbeit nicht so recht vorankam, setzte er sich gern zu Louis Stillmark in die kleine, überheizte Küche und hörte sich an, was Heidis Großvater so aus seinem Leben zu erzählen wusste. Als Kind hatte sich Louis Stillmark am liebsten in der Töpferwerkstatt seines Großvaters mütterlicherseits aufgehalten, und während er haarklein berichtete, wie es in der Töpferwerkstatt zugegangen war, hatte Wolfgang Filmszenen aus dem kleinen Muck vor Augen. Der Großvater sei ein kleines Männchen gewesen, der immer zu Scherzen aufgelegt war, berichtete Louis Stillmark. „In der Töpferwerkstatt habe ich mich am wohlsten gefühlt.“

      „Gibt es Bilder von ihm?“, fragte Wolfgang.

      „Nein“, sagte Louis Stillmark. „Nicht von ihm und nicht von meiner Mutter, die nervenkrank war und in einer Heilanstalt starb.“

      Auf der Kommode in Louis‘ Küche standen postkartengroße, holzgerahmte Bilder. Und an der schmucklos geweißten Wand darüber hing ein großer verglaster Bilderrahmen mit einem Sammelsurium unterschiedlichster Fotos, die von unterschiedlicher Größe waren.

      „Mein Vater war wesentlich robuster als meine Mutter. Obwohl er als Ringschmied ein Leben lang hart und schwer gearbeitet hat, ist er 89 Jahre alt geworden“, sagte Louis Stillmark. „Ich soll ihm unheimlich ähnlich sein.“

      „Das stimmt“, sagte Wolfgang, der an der Wand über der Kommode ein Foto entdeckt hatte, auf dem ein alter, grauhaariger