Der Kaiser. Geoffrey Parker

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Название Der Kaiser
Автор произведения Geoffrey Parker
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806240108



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und Krankheit bewahren. Die Anwesenheit von rund 10 000 auswärtigen Gästen in Worms während der Dauer des Reichstags sorgte in der Stadt schon bald für desaströse sanitäre Bedingungen. Im März 1521 verbrachte auch Karl »eine ganze Nacht und einen ganzen Tag« damit, »sich heftig zu erbrechen, und seine Höflinge sagen, er schwebe in großer Gefahr«; kaum hatte der Kaiser sich wieder erholt, wurden sowohl Marliano als auch Chièvres krank. Der Erste starb am 10. Mai, und am 20. Mai gaben die Ärzte auch bei dem Zweiten »alle Hoffnung auf«. Vier Tage darauf empfing Chièvres die Sterbesakramente, und am Morgen des 28. Mai verstarb er.76 Seine Macht und sein Einfluss starben mit ihm. Aleandro zufolge »nennt keiner bei Hof laut seinen Namen, als wenn es ihn niemals gegeben hätte«, und Gasparo Contarini, der neue venezianische Botschafter, bemerkte, dass Karl, anstatt wie geplant nach Österreich weiterzureisen, beschlossen hatte, aus Worms in die Niederlande zu ziehen, »weil er nach Spanien zurückkehren muss« – und weil »mein Herr Chièvres, der ihm von dieser Reise abgeraten hatte, nun tot ist«.77

      Chièvres hinterließ eine Vielzahl von positiven Vermächtnissen. 1515 hatte er einem französischen Gesandten erzählt, er zwinge Karl dazu, sämtliche eintreffenden Schriftstücke genau zu lesen, »selbst des Nachts«, und »seinem Rat dann persönlich über ihren Inhalt Bericht zu erstatten, worauf darüber in seinem Beisein beraten wurde, denn … wenn ich einmal sterbe, und er hat noch nicht gelernt, seine Angelegenheiten selbst zu dirigieren, wird er wieder einen Tutor brauchen«. Chièvres befand sich in einer außerordentlich günstigen Position, um das Verhalten des jungen Herrschers zu überwachen, schlief er doch, wie Karl selbst berichtete, »stets in meiner Kammer«, damit Karl, sollte er nachts einmal nicht schlafen können, jemanden hatte, mit dem er reden konnte.78 Und offenbar lernte Karl die Lektion, die Chièvres ihm erteilen wollte: Nachdem der Markgraf von der Bühne abgetreten war, berichtete der Legat Aleandro, dass Karl »tagein, tagaus ein beinahe übermenschliches Verlangen erkennen lässt, das Richtige zu tun – etwas, was erst jetzt deutlich wird, da er keinen Erzieher (pedagogo) mehr hat. Und oftmals haben wir gesehen, dass die Entscheidungen, die er wie auf Anhieb trifft, sowohl angemessen als auch vernünftig sind.« Zwei altgediente englische Diplomaten an Karls Hof wurden in ihrer Einschätzung sogar noch deutlicher:

      »Der Kaiser legt bei der Besorgung seiner Geschäfte eine erstaunliche [Tüchtigkeit] an den Tag, denn jeden Morgen ist er von sechs oder sieben Uhr an in seiner [Ratskammer], und dort verbleibt er, bis er zur Messe geht; und binnen einer Stunde, nachdem er zu Mittag gegessen hat, kehrt er wieder dorthin zurück und verbleibt dort wieder, bis es Zeit wird, zu Abend zu essen. Und dieses Leben hat er seit dem Ableben von Lord Chevers so geführt.«

      Im Jahr 1538 erklärte Karl einem anderen englischen Gesandten gegenüber, er widme sich der Regierungsarbeit mit einer solchen Gewissenhaftigkeit, weil »Gott ihn nicht zu seiner eigenen Bequemlichkeit und Freude zu einer solchen Herrschaft berufen hat«. »Lord Chevers« wäre stolz gewesen.79

      Karls Tüchtigkeit scheint auch sein Selbstvertrauen gestärkt zu haben. Im August 1521 lud er Kardinal Wolsey ein, doch persönlich zu ihm zu kommen, um alle noch offenen Fragen zu klären, »weil Ihr und ich gemeinsam an einem Tag mehr vollbringen werden als meine Gesandten in einem ganzen Monat«. Dann fügte er hinzu – und ein leicht bedrohlicher Unterton mag beabsichtigt gewesen sein –, er werde Wolsey »auch meine Armee zeigen, woraus Ihr ersehen mögt, dass ich nicht vorhabe, zu schlafen«. Als Karl sich dann weigerte, auch nur die geringsten Zugeständnisse zu machen, zeigte der Kardinal sich überaus erstaunt, doch lag dies schlicht daran (wie Gattinara bemerkte), dass Wolsey »erwartet hatte, einen Knaben am Gängelband vorzufinden, wie [Karl] einer gewesen war, als der Herr Chièvres ihn noch anleitete, aber stattdessen hat er jemand ganz anderen vorgefunden« – jemanden, »der jetzt den König von Frankreich mit Verachtung straft«. Einige Tage darauf urteilte Wolsey:

      »Für sein Alter ist [Karl] sehr weise und versteht seine Angelegenheiten ganz genau; in der Sprache kühl und beherrscht, und wenn er das Wort ergreift, dann wählt er seine Worte selbstbewusst, recht und treffend. Und zweifellos wird er sich – allem Anschein nach – als ein überaus weiser Mann erweisen, voller Wahrheitsliebe und stets bestrebt, sein Versprechen zu halten.«80

      Der Lordkanzler stellt Chièvres in seiner Rolle als Erzieher damit ein blendendes Zeugnis aus. Für Chièvres den Politiker sprechen zahlreiche Erfolge: Er sorgte dafür, dass die Niederlande mit ihren Nachbarmächten Frieden hielten, was es – unter anderem – ermöglichte, dass sein Zögling 1517 bedenkenlos nach Spanien aufbrechen konnte. Nach der Ankunft dort überzeugte der Markgraf die Königin Johanna, ihren Sohn als Alleinherrscher in ihrer beider Namen einzusetzen, und beschaffte die nötigen Geldmittel, um die Wahl Karls zum römisch-deutschen König zu sichern. Später erwirkte er beim Reichstag zu Worms Beschlüsse zur Lösung der meisten noch schwelenden Probleme, ob es dabei um die Einrichtung eines brauchbaren Regentschaftsrates ging oder die Wiederherstellung der Gesetzesherrschaft, die Finanzierung der Truppenmobilisierung gegen Frankreich – oder darum, Luther zum Häretiker und Gesetzlosen zu erklären, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war. Vor allem aber hatte Chièvres verhindert, dass es zu einem tatsächlichen Bruch mit Frankreich gekommen war. Prudencio de Sandoval war nicht allein mit seiner Meinung, dass, »wenn er [d. i. Chièvres] weitergelebt hätte, es zwischen dem Kaiser und dem König von Frankreich nicht so bald zu Feindschaft und Krieg gekommen wäre, denn er war stets ein Mann des Friedens«.81 In anderer Hinsicht jedoch war Chièvres’ Vorgehen durchaus kritikwürdig. Um noch einmal Sandoval zu bemühen:

      »Chièvres pflegte zu sagen, er allein sei für sämtliche Erfolge verantwortlich gewesen, und verlangte deshalb auch die alleinige Anerkennung dafür; dem König gab er jedoch die Schuld an sämtlichen Misserfolgen … Ich habe eine Denkschrift zu diesem Thema eingesehen, die ein edler Herr aus dem Gefolge des Königs verfasst hat, der als Augenzeuge all das erlebt hatte, wovon er schrieb. Und dort hieß es, dass Chièvres – von der Zeit an, als der König noch sehr jung war und wenig von den öffentlichen Angelegenheiten verstand – es keinem gestattete, mit ihm [d. i. Karl] zu sprechen, ohne dass er [Chièvres] vorher erfahren hatte, was er sagen wollte, sodass er dem König zuvor einsagen konnte, was dieser antworten sollte. Und wer sich weigerte, Chièvres sein Begehr vorab mitzuteilen, der erhielt keine Audienz.«82

      Außerdem setzte Chièvres alles daran, andere Ratgeber, die er als Rivalen betrachtete, auszugrenzen, selbst wenn sie dem jungen Karl in pädagogischer oder sonstiger Hinsicht manches zu bieten hatten. Hier ist an erster Stelle Margarete von Österreich zu nennen, die Chièvres durch Karls Mündigsprechung 1515 ins Abseits drängte, dann Adrian von Utrecht, den er später im selben Jahr nach Spanien schickte, auch der Pfalzgraf Friedrich, der 1517 nicht ohne sein Zutun in Ungnade fiel (siehe Kap. 3), und schließlich der junge Ferdinand, den Chièvres im Jahr darauf in die Niederlande verbannte (siehe Kap. 4).

      Am schlimmsten jedoch war, dass Chièvres beim Anhäufen von Ämtern und Würden und dem Aufspüren neuer Einnahmequellen für sich selbst und seine Familie eine geradezu unersättliche Gier an den Tag legte. Den Tiefpunkt in dieser Hinsicht stellte gewiss die Ernennung seines Neffen zum Erzbischof von Toledo dar, die mehr als jedes andere Einzelereignis zum Ausbruch des Comuneros-Aufstandes beitrug. Insgesamt gehört Chièvres’ Handhabung dieser Rebellion – der gefährlichsten während Karls gesamter Regierungszeit – zu den schlimmsten Fehlern, die er überhaupt je begangen hat. Schlimmer war wohl nur noch seine Unterschätzung Luthers und seiner Anhänger, deren Erstarken in den deutschen Territorien er vollkommen falsch bewertete, indem er die lutherische Bewegung als ein Druckmittel gegen Papst Leo X. einzusetzen suchte, das diesen zum Bruch mit Frankreich und zum Bündnis mit Karl zwingen sollte. Und doch erwies sich Chièvres’ Hasardspiel in beiden Fällen – trotz der immensen Nachteile, die dem Reich auf mittlere Sicht daraus entstehen sollten – kurzfristig als erfolgreich: Als Franz I. schließlich Karl den Krieg erklärte, war in Kastilien wieder Frieden eingekehrt, und sowohl Heinrich VIII. als auch Papst Leo schlugen sich auf die Seite des Kaisers, der das Jahr 1521 damit als ein unbestrittener Sieger beschließen konnte.

      6Dem Fiasko von