Название | Jedes Kind darf glücklich sein |
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Автор произведения | Maren Hoff |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783833876776 |
Wo warst du am 8. Mai 1945?
Wie war der Winter nach Kriegsende?
Warst du allein?
Wann und wie hast du deine Familie wiedergefunden?
Was war das Wichtigste für dich?
Wer war überhaupt deine Familie?
Da war sie, die Frage: Wer war denn überhaupt deine Familie? Zum ersten Mal hörte ich die Namen der Menschen, die vor mir gelebt hatten. Namen von Brüdern und Schwestern meiner Großmutter, die Namen ihrer Mutter, des Vaters, der Großeltern. Namen von Menschen, zu denen es keine Bilder mehr gab, die aber gelebt hatten, die geliebt worden waren und die irgendwie, auf mysteriöse Art und Weise, zu meiner Familie und auch zu mir gehörten.
Meine Ahnen. Dieses Wort kam erst viel, viel später zu mir. Damals nannte ich sie meine Verwandten.
Bald erzählte meine Großmutter von allein: Wie schwierig die Winter waren. Von der Kälte und wie wenig es zu essen gab. Wie sie geklaut hatte. Hamsterfahrten gemacht hatte. Wie sie nach dem Krieg erst auf der Ostseite der Elbe untergebracht worden war und eines Nachts durch den Fluss schwamm, um nicht in der russischen Zone zu bleiben.
Was sie sich 1948 vom ersten Geld der Währungsreform gekauft hat, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben: Kirschen. Ich sehe meine Großmutter vor mir, eine junge Frau von gerade 22 Jahren, wie sie auf dem Markt das erste Mal seit vielen Jahren pralle rote Kirschen kauft. Ein schönes Bild. Nie kann ich seither Kirschen essen, ohne ihr leuchtendes Gesicht vor Augen zu haben. Diese Freude nach all den Jahren der Entbehrung!
Es geht vielleicht vielen so wie mir – die Vorfahren sind eine große Unbekannte in der Gleichung der Familie. Und selbst wenn wir ihre Namen kennen: Wer von uns kennt ihre Geschichten?
Ihre Erinnerung wurde zu meiner Erinnerung und prägt mein Gefühl zu Kirschen bis heute. Sie erzählte auch, wie sie ihre jüngeren Schwestern wiederfand. Dass die Brüder im Krieg geblieben waren. Als würde der Krieg immer noch wüten und als würden die Brüder für immer in ihm gefangen sein. Dass der Vater auf dem Flüchtlingstreck zur letzten Mobilisierung eingezogen worden und damit für immer verschwunden war. Dass die Mutter schon früh gestorben war, lange vor dem Krieg. Da war meine Großmutter sieben Jahre alt gewesen. Dass sie ihr immer noch fehlte. Vor mir breitete sich eine Geschichte aus, voll von Menschen, zu denen ich gehörte und ohne die ich nicht in diese Welt gekommen wäre, nicht leben würde. Und dennoch waren sie unendlich weit entfernt von mir.
Die Großmutter meiner Freundin hatte den Krieg behütet und ruhig in einem Tal des südlichen Schwarzwaldes erlebt. Aber auch hier waren die jungen Männer weggegangen und nie wiedergekommen. Gemeinsam war den Erzählungen der beiden Großmütter, dass die besonders traumatischen Erfahrungen des Krieges nicht zur Sprache gekommen waren: die schweren seelischen Verwundungen, wie sie durch den Verlust von geliebten Menschen, durch Gewalt, Verrohung, Flucht, Vergewaltigung, Hunger und vieles andere verursacht wurden. Dabei sind sie erlebt worden, nicht nur vor 75 Jahren und nicht nur in Europa! Auch heute erleben Menschen überall auf der Welt individuelle und kollektive Traumen. Keine Familie – ich wage zu behaupten: auf der ganzen Welt – kann auf ausschließlich ideale Erfahrungen in der Ahnenreihe zurückblicken.
Unsere Vorfahren, die den Zweiten Weltkrieg mit verursachten und erlebten, haben ihr Urvertrauen verloren. Sie mussten die Erfahrung machen, dass nichts in dieser Welt sicher ist und dass sogar das Unvorstellbarste geschehen kann. Die eigenen Kinder ohne ein Gefühl des Urvertrauens und der damit möglichen emotionalen Offenheit zu erziehen, hinterlässt wiederum bleibende Verletzungen bei den Kindern, deren Ursache diese später kaum mehr zuordnen können. Die meisten von uns bewegen sich dennoch durch die Welt, wir leben, arbeiten und gehen Beziehungen ein, als gehörten wir zu dem – eventuell existierenden – geringen Prozentsatz an Menschen, deren Familien kein Trauma erlebt haben. Angesichts unserer kollektiven Vergangenheit scheint das jedoch schlicht und ergreifend realitätsfern.
Besonders traumatische Erlebnisse wie Kriege bringen Menschen dazu, Schmerz zu verdrängen, um überleben zu können. Dicke innere Schutzwälle müssen gebaut werden, denn das Herz kann so viel Kummer kaum ertragen.
Es geht hier allerdings nicht darum, einem Menschen ein Trauma unterzuschieben, das er oder sie gar nicht als solches erlebt. Wir haben vielleicht oft eine glückliche Erinnerung an unsere Kindheit, und wenn das so ist, dann soll das auch so bleiben. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass wir durch Generationen vor uns und ihre Handlungsweisen stark geprägt sein können und dass wir die Wahl haben, ob wir die Prägung positiv oder negativ einordnen und ob wir sie weitergeben wollen.
TRAUMEN UND SEELISCHE WUNDEN
Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Er bezeichnet im heutigen Kontext allerdings nicht eine physische Wunde, sondern er steht für eine seelische Verletzung, die durch physische oder psychische Gewalteinwirkung hervorgerufen wird und in der Folge zu Belastungsstörungen wie zum Beispiel Angstattacken führen kann.
Ich spreche im Folgenden in der Regel nicht mehr von Trauma, außer es handelt sich um kollektives Trauma. Im individuellen Kontext spreche ich lieber von Wunden. Jeder von uns hat eigene familiäre Erfahrungen. Die meisten meiner Klienten kommen nicht zu mir, weil sie eine gewaltvolle Kindheit erlebt haben. Sie kommen mit Problemen aus ihrem jetzigen Leben, seien es Konflikte mit dem Partner oder die Überforderung mit einer Situation am Arbeitsplatz. Besonders treibt sie die Frage um, ob sie mit ihren Kindern alles richtig machen. In der gemeinsamen Arbeit, in der es oft um Selbstwert und Selbstvertrauen geht und um ein Gefühl der Sicherheit, erleben Klienten dann aber überdurchschnittlich häufig, wie familiäre Strukturen sie stark und oft zum Negativen beeinflusst haben. Sie erkennen, dass es ihren Eltern vielleicht nicht möglich war, sie wirklich liebevoll und passgenau zu versorgen. Oder sie erinnern sich an die mangelnde oder unechte Kommunikation. Vielleicht gab es Sachzwänge wie Geld- oder Platzmangel. Vielleicht war ein Elternteil abwesend. Oder emotional eher verschlossen. Egal, als wie groß oder klein diese Wunden empfunden werden – sie sind prägend für die eigenen Verhaltensweisen.
Je tiefer man in die gemeinsame Arbeit eintaucht, desto besser erkennt man, wie sehr die Verhaltensweisen der Eltern durch selbst erhaltene Wunden, aber genauso durch kleine, immer wiederkehrende Lebensentscheidungen geprägt worden sind. Und genauso die Erlebnisse der Großeltern. Und so weiter durch die Generationen … Auf diese Weise wurden Strukturen von Angst, Abkapselung oder Wut bis zu uns weitergegeben.
Wichtig ist, sich bewusst zu machen, was uns geprägt hat und was somit unser tägliches Leben nachhaltig mitsteuert.
Individualität hat heutzutage einen hohen Stellenwert. Die Einzigartigkeit eines jeden Menschen ist ein großer Schatz. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir nicht allein geworden sind, wer wir sind. Nur in Gemeinschaft können wir überleben. Die Gemeinschaft prägt uns. Wir sind Teil eines Ganzen. Dieses Ganze kann zum Beispiel durch unsere Familie repräsentiert werden. Selbst wenn wir mit ihr keinen Kontakt mehr haben – nur durch sie existieren wir überhaupt auf diesem Planeten. Das zu akzeptieren ist essenziell, wenn wir verstehen wollen, wer wir wirklich sind und warum wir handeln, wie wir handeln, und vor allem: wenn wir in der Zukunft unabhängig und frei agieren wollen.
Die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte soll kein Herumwälzen von Problemen sein und auch keine Wunden aufbrechen, die dann nicht mehr heilen können. Es geht nicht darum, in der Vergangenheit stecken zu bleiben und unsere Opferidentität zu stärken. Vielmehr hilft der Blick in die Vergangenheit, die Gegenwart zu verstehen und von dort aus den Handlungsspielraum zu weiten: indem wir Wunden der Vergangenheit heilen und dadurch selbstbestimmter handeln und uns eine andere Zukunft ermöglichen. Wahre Autonomie lässt sich erst dann erleben, wenn man die Abhängigkeit von der Familie und anderen Bezugspersonen anerkennt und annimmt. Mit dieser Autonomie wiederum können wir unseren Kindern bindungsorientierte, ihnen zugewandte Begleiterinnen und Begleiter werden – passgenau für die Kinder, anstatt sie unbewusst zur Erfüllung unserer eigenen