Schattenklamm. Mia C. Brunner

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Название Schattenklamm
Автор произведения Mia C. Brunner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839249604



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sich schließlich wirklich in einen Singsang aus Schlaflied und Totengesang. Die winzigen Augen des quirligen Mischlings waren fest geschlossen. Der Junge hatte sie zugedrückt, weil sein Freund ihn so angsterfüllt und gequält aus seinem toten Körper angestarrt hatte. Außerdem hatte er dem Hund den weißen Schaum mit dem Ärmel seiner moosgrünen Jacke von den Lefzen gewischt und den Kopf liebevoll auf seinen rechten Unterarm gebettet.

      Ob es einen Hundehimmel gab? Verstohlen sah er nach oben und erblickte eine graue Wolkendecke, aus der es müde nieselte. Auch der Himmel weinte um den süßen Hund.

      Jetzt war niemand mehr da, der ihn mittags begrüßte, wenn der kleine Junge aus der Schule kam. Und sein Papa würde vielleicht sogar froh sein, wenn der alte Kläffer, wie er ihn nannte, endlich weg war. Jeden Abend, wenn sein Vater von der Arbeit kam, schimpfte er auf den fröhlichen Hund, der wild um seine Beine wuselte und sich auf den letzten Spaziergang des Tages freute. Abends durfte der kleine Junge nicht mit seinem Freund nach draußen, weil es zu gefährlich war. Der Junge hatte keine Angst vor der Nacht und wäre auch gegangen, aber abends musste immer sein Vater gehen, weil er groß und stark war und niemand ihm im Dunkeln etwas tun würde.

      Wieder weinte der Junge und Tränen und Rotz tropften über sein Kinn auf das struppige Fell des Tieres. Wäre er doch auch so stark wie sein Vater, dann wäre sein kleiner Freund jetzt noch bei ihm. Dann hätte er noch besser auf ihn achtgeben können und vielleicht hätte sein Vater den Hund dann doch gemocht, weil er ihm keine Arbeit gemacht hätte. Doch der kleine Junge wusste, dass sein Vater nicht um den Mischling weinen würde. Er hatte auch nicht geweint, als die Mama gestorben war. Sein Gesicht war versteinert und wütend gewesen, als er von der Beerdigung kam, zu der der Junge nicht mitgehen durfte, weil es nicht richtig wäre. Damals hatte er sich schuldig gefühlt. Seine Mutter war gestorben, weil er nicht gut genug war, weil sie sich immer so sehr ärgern musste über ihn, weil er nie aufräumte und oft sein Gemüse nicht essen wollte. Jetzt war sie schon so lange tot, doch noch immer vermisste er sie schrecklich. Papa hatte sie schnell vergessen, war morgens wieder früh zur Arbeit gegangen und spät heimgekommen. Alles war wieder wie früher, nur Mama fehlte. Sein Vater würde auch nicht um den Hund weinen. Sein Vater weinte niemals.

      An den Wochentagen war der »Feuertempel« nur wenig besucht. Manche Gäste kamen zum Abendessen oder tranken ein kleines Feierabendbier, doch nur sehr wenige blieben länger als 21 Uhr. Schließlich mussten die meisten der Gäste am folgenden Tag früh raus. Die wenigen Nachtschwärmer, die es länger in der Kneipe hielt, saßen schließlich hauptsächlich direkt an der Bar und bereiteten allerhöchstens Paula ein wenig Arbeit.

      Heute allerdings hatte Paula sich krankgemeldet und der Chef persönlich bediente hinter dem Tresen. Markus Mertens war klein, etwas untersetzt und hatte sich deutlich abzeichnende Geheimratsecken in seinem dunkelbraunen Haar. Erste graue Härchen zierten seinen Kopf, doch keiner konnte sagen, ob sich die grauen Haare oder die Glatze zuerst durchsetzen würden. Ein viel zu großer und buschiger Schnauzbart unter der etwas platten Nase ließen ihn immer mürrisch und schlecht gelaunt aussehen, dabei war er eigentlich eine Frohnatur, wenn man auf seine Art von Humor stand. Er liebte abfällige Witze über Frauen, Behinderte und Ausländer, betonte dennoch immer wieder voller Inbrunst, er wäre der sozialste und liberalste Mensch, den man sich denken könnte. Jessica hielt ihn für einen Idioten und ihre Meinung dazu selbstverständlich immer zurück.

      »Glück gehabt, junge Frau«, empfing Markus Mertens Jessica, als diese hinter den Tresen trat, um die Einnahmen des heutigen Tages an der Kasse abzurechnen. Der Abend hatte sich gelohnt und obwohl es erst kurz nach 21 Uhr war, passte das Trinkgeld und entschädigte sie für jeden dummen Spruch, den sie sich heute hatte anhören müssen. Im Laufe der letzten Wochen hatte Jessica gelernt, dass es hier nicht darauf ankam, immer freundlich zu lächeln und die Gäste höflich und zuvorkommend zu bedienen, sondern darauf, wie frech, kokett und lustig man auf die Kundschaft einging, um ihnen mehr Trinkgeld zu entlocken. Für den Gastraum waren heute nur Jessica und Eva eingeteilt. Ihre Kollegin Eva bediente nach wie vor zwei Tische mit Gästen direkt am großen Panoramafenster, das den Blick in die Fußgängerzone und Einkaufsstraße von Kempten freigab. Boutiquen reihten sich hier an Blumenläden, Imbisse und Kneipen. Um diese Uhrzeit allerdings war der grau gepflasterte Weg zwischen den Geschäften fast menschenleer. Der Bereich der Kneipe, in dem Jessica heute gearbeitet hatte, war jetzt ebenfalls leer. Da vermutlich keine weiteren Gäste kommen würden, griff Jessica nach dem alten Putzeimer unter dem Tresen, um ihre Tische abzuwischen, bevor sie dann von ihrem Chef in den hinteren Bereich geschickt wurde, um in der Küche zu helfen oder sein Büro zu putzen.

      »Bist du taub, Mädel?«, blaffte Markus Mertens sie an, stapfte mit zwei großen Schritten zu ihr hinüber und baute sich direkt vor ihr auf. Ihr Chef war etwa einen halben Kopf kleiner als sie selbst, dafür aber doppelt so breit. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und grinste breit. »Lass das Putzen, das macht heute Eva. Die hat eh nix zu tun.«

      Jessica stellte den Eimer wieder auf seinen Platz und richtete sich dann zu voller Größe auf.

      »Gut«, sagte sie von oben herab und lächelte zurück. »Und was soll ich dann jetzt machen?«

      »Du, Fräulein, gehst jetzt nach Hause. Überstunden abbummeln«, verkündete Mertens selbstgefällig, drehte sich um und ließ sie einfach stehen.

      Wenige Minuten später kam Jessica in Jeans und Wollpullover aus dem Personalbereich der Kneipe zurück in den Ausschankraum, durchquerte den Gastraum auf dem Weg zur Tür und kramte dabei in ihrer Umhängetasche auf der Suche nach ihrem Autoschlüssel. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Arbeitskleidung erst hier anzuziehen, und auch für den Rückweg bevorzugte sie wärmere und bequemere Klamotten. Ende Oktober war es eindeutig bereits zu kalt für kurze Röcke und dünne Blusen.

      Als sie die Tür erreicht hatte und die Hand gerade auf den Türknauf legte, hörte sie jemanden nach ihr rufen.

      »Frau Grothe? Bitte warten Sie.«

      Fragend schaute Jessica in die Richtung, aus der der Ruf kam.

      »Ach«, bekam sie schließlich verwundert heraus, schloss die Tür wieder und ging auf den letzten besetzten Tisch der Kneipe zu. »Hauptkommissar Forster. Was für eine Überraschung.« Beinahe hätte sie, ganz nach Bedienungsmanier, breit und herausfordernd gelächelt, doch sie hielt sich zurück und verkniff sich jede Form von aufgesetzter Freude und Freundlichkeit.

      »Ich würde mich freuen, wenn Sie sich kurz zu mir setzen, Frau Grothe«, sagte Florian Forster freundlich, zeigte auf den freien Platz am Kopfende des Tisches direkt neben sich und fuhr dann fort: »Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«

      Jessica zögerte, setzte sich dann dem Beamten gegenüber auf einen weiteren freien Stuhl am Tisch und erwiderte das belustigte Lächeln auf dem Gesicht des Kommissars.

      »Haben Sie denn immer noch nicht Feierabend, Herr Hauptkommissar?«, fragte Jessica beinahe schnippisch. »Was wollen Sie denn noch wissen? Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich das Opfer nicht kenne.«

      »Es geht nicht um den Fall«, erklärte Florian Forster, griff nach dem fast leeren Bierglas vor sich auf dem Tisch und trank es aus. »Möchten Sie auch etwas trinken?«, fragte er höflich und winkte Eva heran, die nur darauf gewartet zu haben schien, denn beinahe zeitgleich stand sie schon neben dem Tisch und zückte ihren Zettelblock.

      »Hi, Jessy«, grüßte sie ihre Kollegin freundlich, dann galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein dem Hauptkommissar.

      »Ich hätte gern noch eine Halbe und …«, er sah Jessica fragend über den Tisch hinweg an.

      »… bringst du mir ein Wasser, Eva?«, wendete sich Jessica jetzt direkt an ihre Kollegin. »Das alles hier geht auf mich«, sagte sie und deutete mit der Hand auf das jetzt leere Glas ihres Gegenübers.

      Eva machte ein enttäuschtes Gesicht und ging. Sie fürchtete scheinbar um ihr Trinkgeld, wenn sie die Rechnung, wie Jessica es wollte, auf ihr Personalkonto schrieb und nicht abrechnen durfte. Alle Getränke, die das Personal während der Arbeitszeit trank, wurden mit eventuellen Überstunden verrechnet und waren selbstverständlich billiger als im normalen Verkauf. Markus Mertens wusste, wie man Geld machte.

      »Sie