Schattenklamm. Mia C. Brunner

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Название Schattenklamm
Автор произведения Mia C. Brunner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839249604



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der Freunde, doch nach all dieser Zeit, die inzwischen verstrichen war, hatte er beinahe das Gefühl, sie wären sich fremd. Und Jessica war schön wie eh und je, hatte sich in den paar Monaten überhaupt nicht verändert, war sogar irgendwie ausgeglichener und entspannter. Der Umzug hatte den beiden Schwestern vermutlich sehr gutgetan.

      Martin hatte bei seinem Treffen mit Jessica nicht erwähnt, dass er bereits seit zwei Tagen in Kempten war, bevor er sich traute, überhaupt bei ihr anzurufen. Sie sollte nicht wissen, wie sehr das schlechte Gewissen ihn plagte, wie sehr er immer noch unter dem Verlust des besten Freundes litt, und auf gar keinen Fall wollte er Susanne begegnen. Er hätte nicht gewusst, was er ihr sagen sollte. Sie hatte es schließlich am Allerschlimmsten getroffen. Sie hatte nicht nur ihren besten Freund, sondern auch ihren Partner und den Vater ihrer Kinder verloren. Es gab nichts, was er ihr Tröstendes hätte sagen können.

      Er trank seinen Kaffee und die Milch aus, griff nach dem duftenden Brot mit leckerer hausgemachter Butter darauf und schob es sich in den Mund. Dann stand er auf und verließ den kleinen Frühstücksraum durch die Terrassentür nach draußen. Die klare frische Bergluft und der herrliche Blick ins Tal entschädigten ihn etwas für diese Reise, die nicht das gebracht hatte, was er sich erwünschte. Jessica war immer noch nicht seine Freundin.

      Tief über die Akten gebeugt studierte Hauptkommissar Forster zum wiederholten Male die Untersuchungsergebnisse, die bislang vorlagen. Der Mordfall Vollmer entpuppte sich als ein schwieriger, undurchsichtiger Fall, der unheimlich nervte, weil es eben kaum voranging. Das Opfer schien völlig grundlos gestorben zu sein und absolut nichts, nicht einmal ein undeutlicher Fußabdruck deutete auf den Täter hin. Die Mordwaffe war nach wie vor unauffindbar, lediglich die Patronenhülse und die Kugel selbst waren sichergestellt worden, ließen aber auch keine näheren Vermutungen zu. Klaus Vollmer war mit einer einzigen Kugel im Rücken niedergestreckt worden, aus welchem Grund wusste niemand.

      Jetzt, gute 14 Tage nach dem Mord, war es sehr unwahrscheinlich, den Mörder noch zu finden, doch Florian Forster wollte auf gar keinen Fall aufgeben. Gerade scheinbar unlösbare Fälle weckten sein kriminalistisches Interesse, ließen ihn fast fanatisch immer intensiver nach möglichen Motiven suchen und brachten ihm im Kreis seiner Kollegen den Spitznamen »Kampfterrier« ein, weil er sich in solche Fälle regelrecht verbiss und niemals aufgab.

      Tief in Gedanken griff er nach seinem Kaffeebecher und nahm einen Schluck eiskalten Kaffee. Angewidert verzog er das Gesicht und stellte die Tasse zurück auf das einzig freie Plätzchen auf seinem überfüllten Schreibtisch. Aktenordner, Briefe, lose Zettel, seine Dienstmütze, diverse Stifte, Kaugummipackungen und ein Blumentopf mit einem komplett vertrockneten schrumpeligen Kaktus waren neben seinem Bildschirm und der Tastatur mehr oder weniger geordnet über seinen ganzen Schreibtisch verteilt. Hier im ersten Stock der Dienststelle war so gut wie kein Kundenverkehr und unumgängliche Verhöre wurden sowieso im angrenzenden Schreibzimmer oder in dem dafür vorgesehenen Verhörraum geführt. Es bestand also gar keine Veranlassung, Ordnung zu halten.

      Hauptkommissar Florian Forster hasste die anfallende Büroarbeit, arbeitete viel lieber draußen und besuchte seine Verdächtigen gern zu Hause. Auch die häusliche Umgebung konnte schließlich Aufschluss über die zu befragende Person geben.

      Von der Wohnsituation der beiden Schwestern aus Hamburg allerdings konnte er überhaupt keine Rückschlüsse ziehen. Aus welchem Grund hatten die beiden ein so enges Verhältnis, dass sie sogar den Wohnraum miteinander teilten, ja, noch dazu selbst in Hamburg schon immer geteilt hatten? Doch darüber brauchte er sich keine weiteren Gedanken machen, denn diese Spur hatte sich als Sackgasse herausgestellt. Nichts deutete auf eine Verbindung des Opfers zu den Schwestern oder dem verstorbenen Polizisten Reuter aus Hamburg hin, denn auch das Gespräch mit Susanne Reuter vor einer Woche hatte keine neuen Anhaltspunkte ergeben. Als er jetzt an die Unterhaltung mit der jüngeren der beiden Schwestern dachte, schüttelte er gedankenverloren seinen Kopf. Frau Reuter war eine unheimlich attraktive, sehr zierliche Frau und ihr Aussehen und ihr charmantes Auftreten hatten ihn total in ihren Bann gezogen. Normalerweise reagierte er auf Frauen ebenso sachlich und professionell wie auf jeden Mann, den er befragte, doch Susanne Reuter hatte etwas an sich, das ihn faszinierte. Im Nachhinein war er sich bewusst, dass er plappernd und offenherzig über den Fall gesprochen hatte, obwohl genau das sonst gar nicht seine Art war, und dieses Verhalten ärgerte ihn sehr. Er ließ sich ungern manipulieren, denn er zeigte nie Schwäche und verlor selten die Kontrolle über ein Gespräch oder eine Situation. Und Susanne Reuter war zwar unbestritten schön, doch weder ihr Äußeres noch ihr schüchternes und damit hilfloses Verhalten zogen ihn als Mann in irgendeiner Form an. Seine Traumfrau musste schlank, sportlich und selbstbewusst sein, ein Karrieremensch durch und durch, genau wie er, die wusste, was sie wollte, vielleicht schwer zu lenken war, aber gerade das machte doch den Reiz einer Partnerschaft aus. Er wollte diskutieren und streiten. Hauptkommissar Florian Forster brauchte eine intelligente Frau, die ihn forderte, geistig wie auch körperlich. Florian Forster brauchte keine Kellnerin!

      Erschrocken über seine merkwürdigen Gedanken erstarrte der Polizeibeamte in seinem bequemen, aber durchgesessenen Bürostuhl und schaute mit leerem Blick an die bilderlose und völlig nackte Wand ihm gegenüber. Dann grinste er breit. Ja, die andere Schwester wäre eher sein Fall als diese Susanne Reuter. Jessica Grothe war genau die Art von »Sparringpartnerin«, die seinem männlichen Ego Futter geben würde und ihm persönlich jede Menge Spaß. Leider schien sie nicht besonders viel Wert auf ihren beruflichen Erfolg zu legen. Sie war finanziell abhängig von ihrer jüngeren Schwester und spielte lieber das Kindermädchen, als sich beruflich weiterzuentwickeln. Schade, aber diese Tatsache ließ sie gänzlich an Attraktivität verlieren.

      »Guten Morgen, Chef … äh, Florian«, begrüßte Kommissar Willig seinen Vorgesetzten und betrat ohne anzuklopfen das kleine Büro am Ende des Ganges. »Die Unterlagen aus Hamburg sind endlich gekommen. Ich habe sie gleich mitgebracht.«

      Gespannt nahm Florian Forster seinem Kollegen den dünnen grünen Pappordner mit den lang erwarteten Untersuchungsergebnissen vom Mordfall Reuter ab, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bemerkte dann den fröhlichen Gesichtsausdruck von Berthold Willig, der, wie es seine Art war, die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte und beinahe lustig wippend sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuß verlagerte.

      »Was grinst du denn so, Berthold?«, fragte Florian leicht amüsiert und legte demonstrativ den Ordner beiseite, um seinem Kollegen seine volle Aufmerksamkeit zu widmen.

      »Ich habe schon in die Akten gesehen«, verkündete Berthold und wurde gleich noch ein bisschen größer, als er seinen Rücken durchstreckte und sein Kinn etwas nach vorn schob.

      »Und?«, fragte Florian neugierig. »Ist unser Fall jetzt gelöst?«

      »Nee, Chef. Das nicht.« Berthold Willig warf mit einem Kopfrucken sein etwas zu lang geratenes braunes Haar zurück und biss sich belustigt auf die Unterlippe.

      »Und?«, fragte der Hauptkommissar erneut, diesmal schon leicht ungeduldig.

      »Wer hätte das gedacht«, triumphierte Berthold Willig. »Die leitende Hauptkommissarin in Hamburg, die damals den Mordfall Reuter bearbeitet hatte, heißt Jessica Grothe.«

      Kapitel 5

      Vor 20 Jahren in einer idyllischen Hamburger Nebenstraße vor einem imposanten Einfamilienhaus im schicken Vorgarten …

      Der kleine Junge mit dem dunkelblonden Haar und den auffallend leuchtend grünen Augen kniete im nassen Gras und weinte. Die eiskalte Feuchtigkeit drang durch seine neue hellbraune Cordhose und er spürte die beinahe frostige Kälte an seinen Knien und Schienbeinen, doch er konnte jetzt nicht aufstehen. Leise schluchzend wiegte er seinen Oberkörper mechanisch vor und zurück. Von weitem sah es aus, als würde er beten und dazu monoton ein fast stummes Lied summen, doch seine Bewegungen waren nicht weich und fließend, sondern hektisch und schnell. In seinen Armen hielt er etwas Weiches. Weißes struppiges Fell quoll oben und unten über seine fest vor den Bauch gepressten dünnen Ärmchen. Schlaff und leblos lag der kleine Hund auf seinem Schoß und all das fröhliche Bellen und wilde Herumgetobe waren mit diesem winzigen Körper gestorben.

      Er hatte aufgepasst. Niemals hatte er seinen Freund aus den Augen