O du fröhliche, o du grausige. Friederike Schmöe

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Название O du fröhliche, o du grausige
Автор произведения Friederike Schmöe
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839266601



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genug wäre, um es in der Zeitung breitzutreten. Ihr Redakteur würde gespielt erstaunt die rechte Augenbraue hochziehen. Es war doch ein Thema. Alle Medien waren voll davon. Solidarische Gesellschaft. Impfpflicht und so. Bella empfand das Wort rein phonetisch schon als Zumutung. Aber wenn sie Wolters gegenüber meckerte, würde er sie auf lange Sicht erst recht in die Hausfrauenecke abschieben, Sparte »Rezept des Tages«. Diese Drohung geisterte bei jedem Telefonat mit Wolters durch die Leitung und blähte sich jedes Mal zum Monstrum auf, wenn sie als feste Freie nicht bei jedem Anruf aus der Redaktion Gewehr bei Fuß stand. Dabei hatte sie eine Familie zu versorgen. Den Mann, den Vater. Dazu ein Haus. Sie musste für Melanie bereitstehen, falls die ihre alte Mutter mal brauchte. Und jetzt schien auch noch Rolf bei ihr unterkriechen zu wollen. Beim Gedanken an ihren Bruder spürte sie die heftige Sehnsucht nach einem Bier. Nein, besser nach etwas Härterem.

      Sie hatte Rolfs Anruf vor ein paar Tagen nicht ernst genommen. Doch das Schicksal würde sie ereilen, Bruderherz stand in den Startlöchern, sich einmal mehr bei ihr auszuheulen. Diesmal war ihm Ehefrau Nummer zwei abhandengekommen. Sie war von einem anderen schwanger. So was kam vor, aber für Rolf brach die Welt zusammen. Jennifer war 20 Jahre jünger als er und wollte ein Kind. Rolf wollte nicht. Also hatte sie Gegenmaßnahmen ergriffen. Und Rolf? Ihr Bruder, vier Jahre älter als Bella, wusste immer noch keinen anderen Rat, als bei seiner Schwester um Unterschlupf zu flehen. Sich die ramponierte Seele streicheln zu lassen. So wie früher. Als die kleine Schwester der einzige Rettungsanker gewesen war.

      Bella schnaubte. Sie bog in den Flurbereinigungsweg, die inoffizielle Verkehrsverbindung zwischen Siedlung und Dorf. Offiziell war sie nur für Nutzfahrzeuge frei, die Einheimischen machten jedoch ausführlich von ihr Gebrauch. Zwei weitläufige Äcker trennten die beiden Wohngebiete, genannt »die Narbe«. Im Sommer wuchs hier Mais für die Biogasanlage der Siedlung. Jetzt im Winter machte die schwere, dunkle, von einer dünnen, halb gefrorenen Schneekruste bedeckte Erde ihrem Namen alle Ehre. Wulstig und hässlich präsentierte sich die »Narbe« im Licht der Scheinwerfer. Bella fragte sich, ob der Grund in nicht allzu ferner Zukunft auch noch als Baugebiet ausgewiesen würde, die Siedlung mithin noch näher an das Dorf heranrücken würde. Das gäbe unter Garantie Hauen und Stechen!

      Ich habe das Ganze echt satt. Total satt.

      Grantig wischte sie mit der Hand den Beschlag von der Windschutzscheibe. Die Lüftung arbeitete auf Hochtouren. Sie stellte das Radio an, 22-Uhr-Nachrichten.

      Verdammt, sie hatte jetzt keinen Nerv für die Grässlichkeiten der Welt. In ihrer eigenen Umgebung gab es genug aufgeblähte Egos.

      Eine Windbö knallte von der Seite gegen den Mini. Nicht mehr viel und ich hebe ab, dachte Bella missmutig. Sie nahm Gas weg und spähte angestrengt auf den Acker. Was um Himmels willen lag da? Hatte da einer Feuerholz verloren? Drei Meter neben der Straße? Sie trat auf die Bremse.

      Fuck.

      Bella würgte den Motor ab, sprang aus dem Auto, rannte. Schnee peitschte ihr ins Gesicht.

      »Hallo? Hören Sie mich? Hallo?«

      Am Rand der Scheinwerferkegel sah sie ein wachsweißes Gesicht voller dunkler Flecken, umrahmt von nassem dunklen Haar. Blut an der Schläfe. Blut im Schnee darunter. Schneegriesel auf der Kleidung. Der eine Arm seltsam verdreht, die Beine wie locker untergeschlagen.

      Ich glaub das jetzt nicht.

      »Hallo?« Bella hockte sich hin, tastete am Hals der jungen Frau nach dem Puls. War da was? Unmöglich festzustellen, vielleicht ja, vielleicht nein.

      Die Andeutung eines Stöhnens entrang sich der Kehle der Frau.

      »Scheiße!«, schrie Bella in die Dunkelheit. »Hören Sie, halten Sie durch, ich rufe den Notarzt.« Sie rannte zum Auto, riss ihr Handy aus der Mittelkonsole. Setzte den Notruf ab und schnappte dann eine Decke vom Rücksitz. Breitete sie über der Frau aus. Ihr Herz jagte. Das passierte jetzt ständig. Ein sekundenlanges hektisches Pumpern, dann war es vorbei. Bella starrte auf ihre zitternden Hände, bevor sie die eine kalte der Frau ergriff.

      »Sie sterben jetzt nicht, kapiert? Das geht einfach nicht. Bald ist Weihnachten. Da wird nicht gestorben.«

      Wieder ein Stöhnen. Der auffällige Schal stach ins Auge: rot mit bunten Punkten.

      Zu lustig für das hier.

      »So ist es brav. Gleich kommt ein Rettungswagen.«

      Bella hielt die Hand der Frau, deren Gesicht ihr leidlich bekannt vorkam und dann doch wieder nicht. Wie konnte man jemanden wiedererkennen, der in einer Dezembernacht sterbend neben dem Flurbereinigungsweg zwischen zwei Äckern lag? Ganz am Rand der Lichtkegel glaubte sie, etwas Dunkles vorbeiflitzen zu sehen. Nur ein Zucken. Ein Tier?

      Halte durch, Mädchen, betete Bella, Gott, wenn es dich gibt, tu was.

      Als vom Dorf her Blaulicht durch die Nacht geisterte, keuchte die Frau einmal tief auf. Danach war es still, seltsam still, als hätte sich auch der Wind zurückgezogen.

      2

      »Jetzt pass mal auf, Wolters. Ich will diese Story, klar?« Bella blies Rauch ins Telefon.

      »Spinnst du? Deshalb rufst du mich mitten in der Nacht an?« Der Leiter der Redaktion »Main« war zu erschöpft, um auf seine berüchtigte Drehzahl von 180 zu kommen.

      »Ich habe die Frau gefunden, Wolters, sie ist mir unter den Händen gestorben. Im Schnee. Auf der ›Narbe‹.«

      »Wo?«

      »Zwischen Silldorf alt und Silldorf neu.«

      »Ihr seid ja plemplem, da, wo du herkommst.«

      »Ich komme nicht von hier. Ich wohne hier.«

      »Jetzt leck mich doch mit deinen Spitzfindigkeiten!«, brüllte Wolters ins Telefon.

      »Ich schreibe über den Unfall. Ich.« Bella streckte den Arm aus, griff nach der Bierflasche. Sie zitterte. Stellte die Flasche wieder ab, ohne zu trinken.

      »Warum sollte überhaupt jemand darüber schreiben? Wir kriegen die Polizeimeldung rein und drucken sie.«

      »Dass du dich da nicht mal irrst.« Bella liebte es, Wolters’ Hoffnungen zu zerstören. »Die Frau ist angefahren worden. Das hat die Polizei noch am Unfallort festgestellt.«

      »Fahrerflucht?«

      »Sieht so aus.«

      »Klasse, Bella, wirklich. Wer sagt mir, dass nicht du es warst?«

      »Du hast sie ja nicht mehr alle.«

      »Das sehe ich anders. Du rufst mich mitten in der Nacht an, weil …«

      »Verdammt, ich habe eine halbtote Frau gefunden. Die ist mir unter der Hand weggestorben. Exitus. Scheiße, Wolters!«

      »Okay, du hast einen Schock. Trink ein Bier oder nimm eine Tablette oder beides zusammen. Komm erst mal runter.«

      »Wolters, du kannst mich mal am Abend besuchen. Ich will den Fall. Du wirst sehen, da ist was draus zu machen. Erinnere dich morgen an mich.«

      »Wie denn nicht«, grunzte Wolters wütend und legte auf.

      »Arsch!« Bella ließ ihr Telefon auf den Küchentisch fallen.

      3

      »Du warst spät dran, letzte Nacht!« Diethard goss Kaffee in seine Tasse. »Lief lang, die Veranstaltung, was?«

      »Hm«, murmelte Bella. Sie war nicht ganz wach. Nicht einmal ansatzweise. Wenngleich sie nicht mehr schlief. Sie befand sich irgendwo zwischen Schlaf und Wachen. In einem ganz eigenen Chaos, in dem die Naturgesetze nicht galten. Oben war unten und unten oben. Innen außen. So in der Art.

      »Bist du jetzt schlauer? Impfen oder nicht?« Diethard schmierte Kräuterquark auf sein Brot. »Nicht, dass es für uns noch etwas bedeutet. Das Kind ist groß.«

      »Hm.«

      Amüsiert betrachtete Diethard Graukorn seine Frau. »Müde?«