Название | Arkadien |
---|---|
Автор произведения | Emmanuelle Bayamack-Tam |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906910796 |
In meiner Erinnerung an diese bedrückende Phase trägt sie die ganze Zeit eine Art Imkeranzug, eine Schutzhaube, ein Antistrahlentuch und Kupferfaserhandschuhe. In dieser Aufmachung erregt sie viel Argwohn, während ich im Gegenteil gerührte und mitfühlende Blicke auf mich ziehe, da meine Mutter sich einer so strengen Spielart des Islam unterworfen hat, dass sie nicht den kleinsten beruhigenden Hauch Haut oder Haare mehr enthüllt. Und wer weiß, ob sie sich nicht radikalisieren und in die Luft sprengen wird, mit TATP und Schraubenbolzen garniert, bereit, die Ungläubigen zu durchsieben, von denen es in der Nachbarschaft nur so wimmelt? Kein Wunder, dass unsere seltenen Spaziergänge immer wieder in Psychodramen ausarten und Rehlein schleunigst heimkehrt, in Tränen aufgelöst unter ihrem Niqab. Also geht sie gar nicht mehr aus dem Haus, ruht auf den Kissen ihres Mah-Jong-Sofas, spricht mit schwankender Stimme und wedelt ihr Personal wehleidig herbei: Marqui, Kirsten und mich, Gatte, Mutter und Tochter dieses eleganten Wracks.
Wir leben in völliger Abschirmung. Metallene Rollläden haben unsere schönen Samtvorhänge ersetzt, sie sollen die Strahlen zurückwerfen und teilen das elektromagnetische Feld in drei, dennoch verspürt Rehlein jedes Mal ein heftiges Brennen, wenn sie an den Fenstern vorbeigeht. Dabei hat Marqui sich wirklich alle Mühe gegeben, unser Heim zu isolieren, beim Elternschlafzimmer angefangen: Schutztapete, Netzabkoppler, Vitalfeldtechnologie, die den Elektrosmog in heilsame Strahlung verwandeln soll, giftbindende Pflanzen, nichts wurde ausgelassen, um Rehlein ein wenig Ruhe zu verschaffen. Vergebens, denn sie schläft nur drei Stunden pro Nacht, meistens in der Badewanne, entflieht dem Ehebett, obwohl es mit einem Antistrahlenbaldachin versehen ist. Dass wir keine Computer mehr haben, keine Mobiltelefone, keine Induktionskochfelder, versteht sich von selbst. Sogar die Kaffeemaschine wurde verbannt. Wir benutzen wieder das Schnurtelefon, den italienischen Espressokocher aus Edelstahl und LED-Leuchtmittel. Von zehn Nachbarn besitzen aber sechs WLAN. Und natürlich leben wir in unmittelbarer Nähe einer Mobilfunkantenne. Auch wenn Marqui unsere Wohnung zum Refugium umgestaltet hat, siecht Rehlein dahin und die Liste ihrer Symptome wird immer länger: Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Übelkeit, Muskeltonusschwund, Juckreiz, Sehschwäche, Reizbarkeit, kognitive Störungen, unkontrollierbare Ängste, um nur einige zu nennen.
Davon abgesehen, kommt es mir so vor, als hätte ich meine Mutter immer nur nervenschwach und lethargisch erlebt. Tatsächlich machten die Ärzte, die sie konsultierte, keinen Hehl daraus, dass ihr motorisches Defizit und ihre nachlassende kognitive Leistung eher durch eine Depression bedingt waren als durch eine vermeintliche Überempfindlichkeit gegen Elektrosmog. Weil diese Diagnose für Rehlein aber eine Beleidigung darstellt, wirft sie unbedarften Medizinern den Blick einer gebrochenen Lilie zu, – ist sie doch das Ebenbild von Lillian Gish, und obwohl der Star der Stummfilmära den meisten kein Begriff ist, sorgt meine Mutter dafür, dass er nicht in Vergessenheit gerät. Lillian Gish starb ja als Hundertjährige, und Rehlein dürfte es, wie allen zerbrechlichen und überbehüteten Prinzessinnen, nicht anders ergehen. Das stelle ich ohne jeden Groll fest, weil ich meine Mutter aus tiefstem Herzen liebe und sie diese Liebe voll und ganz verdient, mit ihrer Freundlichkeit, die ihrer Schönheit in nichts nachsteht. Sie wäre sogar lustig und heiter, wenn die Depression – oder die EHS – sie nicht daran hinderte. Ja, man sollte sich an diese Kürzel gewöhnen, die in unseren Familienalltag eingedrungen sind, denn meine Mutter ist nicht nur hypersensitiv gegen elektromagnetische Wellen, sie leidet außerdem an MCS, multiple Chemikaliensensitivität, und an ICEP, idiopathische chronische eosinophile Pneumonie, hinzu kommt ihr Reizdarmsyndrom, wobei sich all das bei näherer Betrachtung als ein und dieselbe Pathologie entpuppt: generelle Unverträglichkeit. Und das hat sie ganz bestimmt nicht von ihrer Mutter geerbt, der unverwüstlichen Kirsten, die laut eigenem Bekunden in zweiundsiebzig Lebensjahren nie auch nur den kleinsten Anflug von Schwermut verspürt hat und überhaupt nicht nachvollziehen kann, was ihrem Rehlein widerfährt. An die Kosenamen sollte man sich übrigens auch gewöhnen, denn alle, die ins Liberty House einziehen, müssen ihre bürgerliche Identität aufgeben.
»Stimmt genau, hier gilt das Gleiche wie in der Fremdenlegion«, donnert Arkady. »Wir pfeifen auf das, was ihr früher wart. Es zählt einzig und allein, was Liberty House aus euch machen wird!«
Und so hat Arkady praktisch alle enttauft, nie um eine Verniedlichung oder einen Spitznamen verlegen. Aus meinem Vater wurde Marqui, aufgrund seiner schweren Dysorthographie beharrlich ohne »s« geschrieben; meine Mutter ist Rehlein, Fiorentina ist Mrs Danvers, Dolores und Teresa heißen Dos und Tres, Daniel ist Nello, Victor wird mal Monsieur Bitch, mal Monsieur Mirror gerufen, Jewel ist Lazuli und so weiter. Mir wurde das Einführungsritual versagt, wahrscheinlich, weil mein überaus zartes Alter diese symbolische Neugeburt überflüssig machte. Der Ehrlichkeit halber sollte ich jedoch erwähnen, dass Arkady meinem Vornamen in der Regel kryptische Beinamen hinzufügt: Farah Facette, Farah Diba, Prinzessin Farah, Kaiserin Farah und so weiter. Diese Titel schmeicheln mir natürlich, aber ich habe keine Ahnung, was an mir auch nur den Hauch von Adel oder Überlegenheit erkennen lassen könnte.
Dessen ungeachtet, sind wir im Liberty House glücklich gewesen. Dort führten wir tatsächlich das idyllische Leben, das Arkady uns versprochen hatte, wobei er die Rolle seines Lebens spielte, die des guten Hirten, der seine arglose Herde auf die Weide führt. Ich betone das umso mehr, als dieses Glück nun bedroht, wenn nicht unrettbar geschädigt ist. Vor fünfzehn Jahren jedoch, als wir unter einem blauen Junihimmel diesen absurden Gedenkstein einweihten, fühlten wir uns leicht, von unseren Ängsten befreit, voller Zuversicht, und zwar zum ersten Mal seit Langem, ich zum ersten Mal überhaupt, da ich meine Eltern immer nur furchtsam eingekapselt erlebt hatte, unfähig, sich der Außenwelt zu stellen. Mit sechs war ich bereits die Stütze meiner kleinen Kernfamilie, diejenige, die hinausgeschickt wurde, um reale und eingebildete Klippen zu umschiffen: Ich holte die Post, brachte den Müll hinunter, kaufte Brot oder die Zeitung. Kirsten übernahm Wocheneinkauf und Behördengänge und reagierte eher verhalten auf unsere Entscheidung, ins Liberty House zu ziehen:
»Mag ja ganz nett sein, so eine weiße Zone, früher oder später wird es auch in dieser Gegend Mobilfunkantennen geben. Vielleicht stehen in der Nähe schon Hochspannungsmaste! Oder ein Atomkraftwerk, von dem ihr nichts ahnt. Außerdem ist dieser Schuppen mindestens 150 Jahre alt. Bei dem vielen Blei, Asbest und Schimmel werdet ihr dort keine drei Jahre aushalten!«
Drei Jahre entsprachen der Ansicht meiner Großmutter nach in etwa der Lebenserwartung, die uns aufgrund dieser flüchtigen organischen Verbindungen bleiben würde. Denn obwohl sie die Phobien ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns nicht uneingeschränkt teilte, war sie ebenfalls der Meinung, dass wir einer vom Aussterben bedrohten Art angehörten. Wir fürchteten uns, und unsere Furcht war so vielgestaltig und heimtückisch wie das, was uns bedrohte. Wir fürchteten uns vor neuen Technologien, Klimaerwärmung, Elektrosmog, Parabenen, Sulfaten, digitaler Steuerung, Tütensalat, Quecksilberbelastung im Meer, Gluten, Aluminiumsalzen, Grundwasserverschmutzung, Glyphosat, Entwaldung, Milchprodukten, Vogelgrippe, Diesel, Pestiziden, raffiniertem Zucker, Umwelthormonen, Arboviren, intelligenten Stromzählern, um nur einiges zu nennen. Und auch wenn ich selbst noch nicht so recht verstand, wer uns da an den Kragen wollte, wusste ich, dass sein Name Legion ist und wir bereits kontaminiert waren. Ich machte mir Befürchtungen zu eigen, die mir zwar fremd gewesen waren, sich aber mühelos mit meinen kindlichen Ängsten verbanden. Ohne Arkady wären wir über kurz oder lang gestorben, weil die Panik größer war als unsere Fähigkeit, sie auszuhalten. Statt Krankheit, Wahn oder Selbstmord hatte er uns eine wundersame Alternative geboten. Er hatte uns in Sicherheit gebracht. Er hatte zu uns gesagt: »Fürchtet Euch nicht!«
Ich bin für die Anbetung geschaffen. In ihrem Klima blühe ich auf. Und niemand verdient Anbetung mehr als Arkady. Wäre ich ihm nicht begegnet, hätte ich vielleicht mein ganzes Leben damit zugebracht, mittelmäßige Menschen anzubeten, und es dadurch vergeudet. Ich hatte das unermessliche Glück, dass unser Retter sich als herausragender Mann erwies und der kultischen Verehrung, die ich ihm auf Anhieb und für immer angedeihen