Название | Kehrseite der Geschichte unserer Zeit |
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Автор произведения | Оноре де Бальзак |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955014728 |
Nun ist es unmöglich, dass man von der »Nachahmung Christi« nicht gepackt werde, die für die Glaubenslehre dasselbe ist wie die Ausführung für den Gedanken. Der Katholizismus lebt, bewegt sich, zittert darin und setzt sich mit dem menschlichen Leben selbst auseinander. Das Buch ist ein zuverlässiger Freund. Es spricht über alle Leidenschaften, alle Schwierigkeiten, selbst die der Weltleute; es besiegt alle Einwände, es ist beredter als alle Prediger; denn seine Sprache ist deine Sprache, es wächst aus deinem Herzen empor und redet zu deiner Seele. Es ist das übertragene Evangelium, angepasst allen Zeiten, angewandt auf alle Lebenslagen. Es ist merkwürdig, dass die Kirche Gerson nicht heiliggesprochen hat, denn der Heilige Geist hat ihm sicherlich die Feder geführt.
Für Gottfried barg das Haus de la Chanterie außer dem Buche auch eine Frau, und er verliebte sich mit jedem Tage mehr in diese Frau; er entdeckte bei ihr unter dem Schnee des Winters vergrabene Blüten, er empfand die Seligkeit einer solchen geheiligten Liebe, die die Religion gestattet, der die Engel zulächeln, die schon die fünf Menschen untereinander verband, und bei der kein schlechter Gedanke aufkommen konnte. Es gibt ein Empfinden, das über allen andern steht, eine geistige Liebe, jenen Blumen ähnlich, die auf den höchsten Gipfeln der Erde wachsen, eine Liebe, von der ein oder zwei Beispiele alle Jahrhunderte einmal der Menschheit geschenkt werden, in der sich seltsame Liebende vereinigen, und die Beweise für eine Liebestreue gibt, die im gewöhnlichen Leben unerklärlich wäre. Das ist eine Liebe ohne Irrungen, ohne Zwiste, ohne Eitelkeiten, ohne Kämpfe, selbst ohne jede Gegensätzlichkeit, so sehr fließt das geistige Empfinden beider in eins zusammen. Die Seligkeit dieses tiefen, grenzenlosen Gefühls, das in der katholischen Nächstenliebe wurzelt – Gottfried ahnte sie. Manchmal vermochte er an das Schauspiel, das er vor Augen hatte, nicht zu glauben und suchte nach Gründen für die erhabene Freundschaft dieser fünf Menschen, die zu seinem Staunen echte Katholiken waren, Christen aus den ersten Zeiten der Kirche, mitten in dem Paris von 1835
Acht Tage nach seinem Einzug war Gottfried schon Zeuge eines so großen Zustroms von Leuten und hatte Bruchstücke von Gesprächen aufgefangen, bei denen es sich umso schwerwiegende Dinge handelte, dass er merkte, welche ungeheure Tätigkeit die fünf Personen entfalteten. Er nahm wahr, dass keine von ihnen mehr als sechs Stunden schlief.
Alle hatten gewissermaßen schon eine erste Tagesarbeit vor dem zweiten Frühstück hinter sich. Fremde brachten oder holten Geldbeträge, die zuweilen sehr erheblich waren. Häufig kam der Kassenbote Mongenods, und zwar immer ganz früh, so dass sein Dienst unter diesen Gängen nicht litt, die vor den Bankkunden ausgeführt wurden.
Herr Mongenod erschien selbst eines Abends, und Gottfried fiel dabei eine gewisse familiäre Vertraulichkeit auf, die er im Verein mit tiefem Respekt Herrn Alain ebenso wie den drei andern Pensionären der Frau de la Chanterie bezeigte.
An diesem Abend richtete der Bankier nur einige gleichgültige Fragen an Gottfried: Ob er sich hier wohl fühle, ob er bleiben wolle usw., wobei er ihm empfahl, bei seinem Entschlusse zu verharren.
»Mir fehlt nur eins, um mich glücklich zu fühlen«, sagte Gottfried.
»Und das wäre?« fragte der Bankier.
»Eine Beschäftigung.«
»Eine Beschäftigung?« bemerkte der Abbé de Vèze.
»Sie haben also Ihre Absichten geändert? Sie sind doch in unser Kloster gekommen, um hier Ruhe zu suchen?«
»Ruhe ohne die Gebete, die die Klöster beleben, ohne die Meditationen, die die Thebais erfüllte, macht krank,« sagte Herr Joseph belehrend.
»Lernen Sie doch Buchführung«, sagte Herr Mongenod lächelnd, »Sie könnten sich dann in einigen Monaten meinen Freunden sehr nützlich machen...«
»Oh, mit großem Vergnügen,« rief Gottfried.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Frau de la Chanterie wünschte, dass ihr Pensionär sie in das Hochamt begleite.
»Das ist der einzige Zwang, den ich Ihnen aufzuerlegen wünsche,« sagte sie. »Schon manchmal habe ich im Verlauf dieser Woche mit Ihnen von Ihrem Seelenheil sprechen wollen, aber ich hielt den Augenblick dafür noch nicht gekommen. Sie würden sehr in Anspruch genommen werden, wenn Sie an unserer Glaubensbetätigung teilnähmen, denn Sie würden dann auch an unsern Arbeiten teilnehmen.
Bei der Messe fiel Gottfried die Inbrunst der Herren Nikolaus, Joseph und Alain auf; und da er sich während der wenigen Tage ihres Zusammenseins von der Überlegenheit, dem Scharfsinn, der umfassenden Kenntnis und dem bedeutenden Geist der Herren hatte überzeugen können, so kam ihm der Gedanke, dass, wenn sie sich so demütigten, die katholische Religion Geheimnisse in sich bergen müsse, die ihm bisher entgangen waren.
»Schließlich«, sagte er sich, »ist es ja doch die Religion Bossuets, Pascals, Racines, des heiligen Ludwig, Raffaels, Michelangelos, Ximenes', Bayards, du Guesclins, und ich Armseliger kann mich mit diesen Geistern, diesen Staatsmännern, Künstlern, Heerführern doch nicht vergleichen.«
Wenn diese kleinen Einzelheiten nicht wichtige Fingerzeige gäben, wäre es töricht, sich heutzutage damit aufzuhalten; aber sie sind für diese Erzählung unentbehrlich, der unser jetziges Publikum schon schwer genug Glauben schenken wird, und die mit einer fast lächerlich erscheinenden Tatsache beginnt: mit der Herrschaft einer sechzigjährigen Frau über einen jungen, von allem enttäuschten Mann.
»Sie haben nicht gebetet,« sagte Frau de la Chanterie zu Gottfried an der Tür von Notre-Dame, »für niemanden, nicht einmal für die Seelenruhe Ihrer Mutter.«
Gottfried errötete und schwieg.
»Tun Sie mir die Liebe«, sagte Frau de la Chanterie, »gehen Sie in Ihre Wohnung und kommen Sie erst in einer Stunde in den Salon. Wenn Sie mich liebhaben,« fügte sie hinzu, »so werden Sie über ein Kapitel der ›Nachahmung Christi‹ nachdenken, das erste des dritten Buches, das betitelt ist ›Von dem Gespräch mit sich selbst‹.«
Gottfried empfahl sich kühl und ging in seine Wohnung hinauf.
›Der Teufel soll mich holen!‹ sagte er sich, ernstlich in Wut geratend. ›Was wollen sie denn hier von mir? Was für Machenschaften haben sie vor?... Alle Weiber, selbst die frommen, sind gleich schlau; und wenn die gnädige Frau,‹ meinte er, indem er seine Wirtin so nannte, wie die übrigen Pensionäre es taten, ›mich jetzt nicht haben will, so ist das, weil etwas gegen mich angezettelt werden soll.‹
In solchen Gedanken versuchte er, durch sein Fenster in den Salon zu sehen, aber die örtliche Lage gestattete ihm nicht, etwas zu erkennen. Er stieg eine Etage hinab, kehrte aber schnell wieder zurück, denn er überlegte, dass bei den strengen Grundsätzen der Hausbewohner ein Akt der Spionage ihm sofort die Verabschiedung eintragen würde. Die Achtung der fünf Personen einzubüßen, schien ihm ebenso unerträglich, wie wenn er sich öffentlich entehrt sehen würde. Er wartete etwa drei Viertelstunden und beschloss dann, Frau de la Chanterie zu überraschen, indem er vor der angegebenen Zeit erschien. Er erfand eine Lüge, um sich zu rechtfertigen: er wollte sagen, dass seine Uhr nicht richtig gehe, und stellte sie zwanzig Minuten vor. Dann ging er, ohne das leiseste Geräusch zu machen, hinunter. Er gelangte so bis an die Tür des Salons und öffnete sie plötzlich.
Hier sah er einen noch jungen, ziemlich berühmten Mann, einen Dichter, den er häufig in Gesellschaften getroffen hatte, Victor de Vernisset, vor sich, auf ein Knie vor Frau de la Chanterie gesunken und den Saum ihres Kleides küssend. Wäre der Himmel aus Kristall, wie die Alten glaubten, und wäre dieser Himmel krachend zusammengebrochen, so wäre Gottfried davon weniger überrascht worden als von dem Schauspiel, das sich