Название | Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band) |
---|---|
Автор произведения | Joachim Ringelnatz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027203710 |
Der Stadtrat, ohne etwas zu erwidern, schiebt einen Bauer vor und gerät abermals ins Kopfnicken. „Schach!“
Die Bürste entwickelt einen glücklichen Trick und – „Schach!“ – fährt fort zu plaudern: „Wenn ich nicht irre, lebte damals noch Daja – Schach und Gardez! Nein, der ist vom Springer gedeckt. Sie war solch ein liebes Mädel.“
„Oh,“ bricht des Stadtrats hohe Stimme ein, „das Bravste, das Klügste, das Beste von meinen Kindern, das einzige, das mir mit Freude vergalt.“
Onkel Fußball merkt wohl, wie sein Partner mit dem Finger über die stumpfen Augen wischt. „Und drollig in ihren Einfällen. Schach! Gib die Partie auf: es bleiben dir höchstens drei Züge. Ich besinne mich noch, sie hatte ein Kaninchen, das sie Verstorbenheit nannte. – Ein närrisches Mädel.“
Müde, stöhnend, gähnend legt sich der Stadtrat im Sessel zurück. Onkel Fußball gießt zitternd Tokayer ins Glas, leert es, schluckt die tote Motte mit hinunter. „Der Teufel mag wissen, was hinter dem Goal steckt.“ Nochmals füllt er das Glas, „Prosit Alter,“ klingt es an die Flasche.
Und in die späte Stunde hinein hallt ungewürdigt ein schluchzender, gedehnter Laut, wie ihn die Zither mitunter gebiert, wie ihn die Nachtigall weint.
11
Es war ein altes Weib, das sich mit Betteln ernährte, das von Krankheit entstellt und obwohl der Sprache des Landes, in dem sie lebte, mächtig, doch eine Fremde dort war. Denn sie stammte aus Frankreich, und die Leute, die das wußten, nannten sie deshalb und ob ihrer Unsauberkeit „Madame Schmütz“.
Madame Schmütz war unredlich und schlau, und wenn sie bettelte, log sie den Leuten allerlei anschaulich vor, gab an, daß sie neun hungernde Kinder habe, daß sie die Gattin eines Husarengenerals gewesen und dann schuldlos ins Unglück geraten wäre, und anderes mehr, was die Leute zur Mildtätigkeit bewegte. Ja, es kam vor, daß die Bettelnde sich anstellte wie eine Blinde, die sie doch nicht war; und auf solche Weise erwarb sie sich das, was sie brauchte, um Brot zu kaufen, ein kleines Stübchen mit Bett und Heizung zu bezahlen und um Schnaps trinken zu können.
Über Madame Schmütz wohnte Maletimmi, ein seelensgutes Mädchen, eine kluge, fleißige, aber ebenfalls sehr arme Künstlerin. Sie hatte die Alte lange beobachtet, auch wohl erkannt, wie garstig und nichtswürdig sie bei allem Elend war, aber gerade deswegen fühlte die Künstlerin doppeltes Mitleid mit ihr. So ersann sie in schöner Liebherzigkeit einen Plan, und lief straßhin und straßher, treppauf und treppab zu vielen wohlhabenden befreundeten oder fremden Menschen, um Helfer für das alte Bettelweib zu werben.
Mancherorts ward ihr übel begegnet, aber nach geduldigen Mühen fand sie eine Frau, welche versprach, Madame Schmütz als Magd anzustellen, eine andere, die Kleider schenkte, und wieder andere Leute, die Schuhe und Geld für den edlen Zweck hergaben.
Und eines Tages begab sich Maletimmi frohen Gemütes hinunter zu der Bettlerin, um ihren Plan zu eröffnen. Diese war betteln gegangen. Sie hatte sich dazu nach dem wohlhabenden Stadtviertel jenseits des Flusses gewandt, der dick, braun und schaumig wie abgestandener Kaffee und träge dahinfloß, war über die breite Holzbrücke und ein, zwei Straßen entlang Almosen erflehend von Wohnung zu Wohnung gewandert und betrat nun die Vorhalle eines stattlichen Hauses. Dort standen mit goldenen Buchstaben an der ersten Tür zwei Worte, vor welchen Madame Schmütz überrascht stehen blieb. Sie nannten den Namen eines Mannes, den sie genau kannte, da sie zu glücklicheren Zeiten mit ihm in ein und demselben Hause einen ähnlichen Posten wie er bekleidet hatte. Nun las sie erbebend mehrmals hintereinander die Worte Michel Andex.
Der wird mir helfen, jauchzte sie leise, und ihre Augen blitzten.
Aber dann jagte ein häßliches Grinsen über ihr blatternarbiges Runzelgesicht. Nein, er kennt mich nicht; sie sind alle gleich, alle, alle, alle. Ich hatte ihn nie besonders gern, und er haßte mich. Er war ein Laffe, ein eingebildetes Huhn. Aber das Haus ist gut. Die Tür ist fein; das Schild ist polierter Stahl; er wurde reich und er wird Erbarmen haben. Es muß ihn ja ergreifen.
Langsam, geräuschlos stieg sie drei Stufen empor, trat an die Tür, legte die Hand um den Klingelknopf, zog aber nicht, sondern wartete sinnend.
So ihn wiedersehen – es hörte sich an wie Stöhnen – so vor ihn hintreten. Nein!
Sie schlich die drei Stufen wieder hinab und verharrte wieder regungslos.
Aber Not lehrt alles – flüsterte sie – und stieg von neuem die Stufen hoch, zögerte abermals zu läuten. Und läutete nicht.
Scheu, erregt, wund im Herzen kehrte sie um und eilte hinweg. So blieb es ihr verborgen, daß Michel Andex schon längst nicht mehr hinter dem polierten Stahlschild wohnte.
Und niemals erfuhr sie, daß daheim die gütige Maletimmi mit froher Botschaft auf sie gewartet hatte.
Denn an jenem Tage stürzte die breite Holzbrücke zusammen und riß mit anderen vermutlich auch Madame Schmütz in das kaffeebraune, schaumige Wasser.
12
Der Spruch der Kartenfrau, welche sich jedes Wort mit fünfzig Pfennigen bezahlen ließ, hatte gelautet: „Deine Bahn ist grau, glatt und führt dich zu Kränzen.“ Wer konnte nun sagen, daß das prophetische Wahrheit, wer sagen, daß es für fünf Mark Lüge war?
Signor Pero Fortezza glaubte halbwegs an Wahrheit. Die Geldausgabe würde ihn keinesfalls gereuen, obschon sie empfindlich in sein Budget einschlug. Dicht vor einer für ihn bedeutungsvollen Entscheidung wollte er alles versuchen, was Hilfe versprach, und versuchte alles. Am Morgen des sehnlich erhofften und bang erwarteten Tages wie am Abend zuvor hatte er seit langer Zeit wieder einmal gebetet, ungefähr so: Lieber Gott, wenn du mir beistehst und mich diesmal siegen läßt, will ich fromm werden und Gutes tun und in die Kirche gehen. Dem war ein sehr ungeläufig herausgebrachtes Vaterunser gefolgt, und die Stelle „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ hatte den Betenden in Zweifel verstrickt. Er gestand sich, manchem seiner Schuldiger nicht ganz vergeben zu haben.
Wohl hege ich – sprach er zu sich selbst – keinen Groll gegen meinen Vater, der mich verstieß. Der handelte so streng, klein und ehrlich, wie er wandelte. Auf dem schattenlosen Felde seines Gewissens wuchs kein Kräutlein, um eine Entschuldigung für Diebstahl zu brauen.
– nicht mehr vor Augen, bis du etwas Tüchtiges ehrlich geworden bist, was immer es sei.
O du braver, gekränkter Vater! Deine liebste Tochter starb, da ihre Locken kinderblond beglückten, der anderen hat Dünkel das Herz erfroren; und ein verschollener Dieb und ein ver- verlaufenes Weib. Das ist deine Familie, für welche du stets das Beste wolltest. Nicht anders als mit heißem Mitleid in Reue und Liebe kann ich deiner gedenken. Aber niemals – meinte Pero – niemals würde er die bitteren, herzlosen Worte der Mutter verwinden, denn sie, die später Mann und Kinder nur – ja nur um einer sinnlichen Neigung willen verlassen hatte, war nicht mehr wert als er, der einmal im Leben einen Mißgriff getan, den er in der Härte aufrechten Broterkämpfens gebüßt hatte. Und seiner Schwester Chile, der gräflichen Geliebten, der überlegenen Künstlerin, ein bettelndes Wort zu geben, die ihn nicht mehr kannte, seitdem ein Hochgeborener sich ihrer erbarmt hatte, das ging nicht an; das wäre ihm nimmer von Herzen gekommen. Nein, diese Schwester mußte er weiter offen hassen und verachten.
Sollte nun Gott dem Pero Fortezza so vergeben, wie dieser anderen Menschen vergab, so hieß das: er sollte ihm gar nicht oder doch nur unvollkommen vergeben. Oder barg jene Stelle im Paternoster anderen Sinn? Oder dies oder das? Am Ende war solches Wortedeuten nur ein nutzloses Spiel von Wahn. Gab es wirklich einen Gott, der aus seiner Allmacht heraus so viel Anteil nahm an dem winzigen Treiben winziger Wesen? Immerhin trat der Signor auf dem Wege zum Kampfplatz in eine Kirche ein, eine katholische Kirche, obwohl er Protestant war, betete vor dem Heiland kniend zum drittenmal und vergaß nicht ein mitgebrachtes, vertrocknetes