Название | Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher |
---|---|
Автор произведения | Стендаль |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026824862 |
Nach mehreren Monaten beständiger Selbstzucht sah man Julian immer noch an, daß er dachte. Seine Art, die Augen zu bewegen, den Mund zu verziehen, zeigten noch nichts von jener Glaubenseinfalt, die imstande ist, alles zu glauben und alles zu dulden, und wäre es das Martyrium. Voll Ingrimm erlebte es Julian, daß die dümmsten Bauerntölpel ihn in dieser Kunst übertrafen. Es war allerdings kein Wunder, daß diese Burschen nicht aussahen wie Denker.
Julian gab sich unsägliche Mühe, den Gesichtsausdruck jenes blinden fanatischen Glaubens zu erringen, den man unter den italienischen Mönchen so häufig antrifft. Meister Guercino führt ihn dem Laien in seinen Kirchenbildern wahrheitsgetreu vor Augen.
An den hohen Festtagen gab es im Seminar Bratwurst mit Sauerkraut. Julians Tischnachbarn bemerkten, daß er keinen Sinn für diesen Hochgenuß hatte. Das war wieder ein Kapitalverbrechen. Seine Kameraden erblickten darin häßliche dumme Heuchelei. Nichts schuf ihm mehr Feinde. »Seht den eingebildeten Bourgeois!« tuschelten sie untereinander. »Er tut so, als verachte er Bratwurst und Sauerkraut! Diese Delikatesse! Zum Teufel mit so einem gottverdammten albernen Fatzken!«
Eines Tages ließ der Direktor Pirard Julian zu sich rufen. Es war mitten in der Kirchenlehre-Stunde. Der Ärmste war froh, der körperlichen und geistigen Enge des Unterrichts entrinnen zu dürfen.
Der Abbé empfing ihn in der nämlichen furchterweckenden Art und Weise wie damals, als Julian in das Seminar eintrat.
»Erklären Sie mir, was auf dieser Spielkarte steht!« befahl er mit einer Miene, als wolle er seinen Zögling morden.
Julian las: Amanda Binet. Café zur Giraffe. Vor acht Uhr. Sagen, aus Genlis gebürtig und Vetter meiner Mutter.
Julian erkannte die ungeheure Gefahr. Ein Spion des Abbé Castanède hatte ihm diesen Merkzettel gestohlen.
»Am Tage, als ich ins Seminar eintrat…«, berichtete er, und weil es ihm unmöglich war, dem Direktor in seine gräßlichen Augen zu schauen, richtete er seinen Blick auf Pirards Stirn, »… da war mir ängstlich zumute. Der Herr Pfarrer Chélan hatte mir gesagt, es wimmele hier von Angebern und bösen Menschen, und Spioniererei und Verdächtigungen seien unter den Seminaristen gang und gäbe. Der Himmel wolle es so, um den angehenden Priestern das Leben zu zeigen, so wie es ist, und sie mit Abscheu vor dieser Welt und ihrem Gepränge zu erfüllen …«
»Wollen Sie mir eine Predigt halten, jugendlicher Schelm, Sie?« unterbrach ihn der Abbé zornig.
»In Verrières«, fuhr Julian kaltblütig fort, »schlugen mich meine Brüder, wenn sie irgendwie neidisch auf mich waren …«
»Zur Sache! Zur Sache!« rief Pirard fast außer sich.
Julian ließ sich nicht im geringsten einschüchtern. Er erzählte ruhig weiter.
»Es war am Tage meiner Ankunft hier in Besançon. Gegen Mittag bekam ich Hunger und ging in ein Kaffeehaus. Zwar empfand ich Widerwillen in mir, einen so profanen Ort zu betreten, aber ich dachte, mein Frühstück würde mich dort billiger kommen als im Gasthof. Eine Dame, wahrscheinlich die Besitzerin des Lokals, hatte Mitleid mit meiner Unerfahrenheit. › Besançon ist voll von schlechten Menschen ‹, sagte sie zu mir. ›Ich habe Angst um Sie. Wenn Ihnen etwas Mißliches zustoßen sollte, so wenden Sie sich nur an mich. Schicken Sie vor acht Uhr zu mir. Wenn sich der Pförtner im Seminar weigert, Ihren Auftrag zu übernehmen, so sagen Sie, Sie wären ein Vetter von mir und aus Genlis gebürtig … ‹«
»Wir werden ja sehen, ob dieses Geschwätz wahr ist«, meinte Pirard, der vor Erregung von seinem Stuhle aufgestanden war und im Zimmer umherlief. »Jetzt marsch in Ihre Zelle!«
Der Abbé folgte Julian und schloß ihn ein. Sogleich fing dieser an, seinen Koffer zu untersuchen, in dem die verhängnisvolle Karte ganz zu unterst, sorgfältig versteckt, gelegen hatte. Es fehlte nichts; nur waren die Sachen etwas in Unordnung geraten. Und doch hatte er den Schlüssel stets bei sich getragen!
»Es ist noch ein Glück«, dachte Julian bei sich, »daß ich in der Zeit meiner Blindheit von der Erlaubnis, auszugehen, niemals Gebrauch gemacht habe. Der Abbé Castanède hat mich wiederholt auffällig freundlich dazu aufgefordert. Jetzt begreife ich, warum. Vielleicht wäre ich schwach genug gewesen, Zivil anzuziehen, um die schöne Amanda zu besuchen. Dann war ich verloren! Als sich die Erwartung meiner Feinde nicht erfüllte, haben sie sich begnügt, mich zu denunzieren.«
Zwei Stunden später ließ ihn der Direktor abermals kommen.
»Gelogen haben Sie nicht!« sagte er in nicht mehr so strengem Tone. »Aber eine solche Adresse aufzubewahren, war eine Unvorsichtigkeit, deren Tragweite Sie gar nicht ermessen können. Unter Umständen kann Ihnen diese Geschichte noch in zehn Jahren schaden.«
27. Kapitel
Julian hatte mit seiner Scheinheiligkeit wenig Erfolg. Zeitweilig hatte er Anfälle von Ekel, ja völliger Verzweiflung. Er kam nicht vorwärts. Um so widerlicher dünkte ihn der geistliche Beruf. Der geringste Zuspruch von außen hätte genügt, ihm das Herz auf den rechten Fleck zu setzen. Die Schwierigkeiten, die er zu bekämpfen hatte, waren nicht unüberwindlich, aber er segelte allein dahin wie ein einsames Schifflein im Weltenmeer. »Und wenn ich auch vorwärtskomme«, sagte er sich, »so habe ich doch ein ganzes Leben in so übler Gesellschaft vor mir. Ich konkurriere mit Vielfraßen, die an nichts denken als an die Speckpfannenkuchen, die sie zu Mittag verschlingen werden, oder mit Halunken, denen wie dem Abbé Castanède kein Verbrechen zu schwarz ist… Diese Leute gelangen zur Macht. Ja, aber um welchen Preis! Der feste Wille eines Menschen vermag viel. Das weiß ich. Aber genügt der Wille, um so starken Ekel zu überwinden? Die großen Männer der Geschichte hatten es leicht. So schrecklich auch die Gefahren waren: sie fanden sie schön. Aber niemand außer mir kennt die häßlichen Dinge, die mich umstarren!«
Er befand sich im Stadium der schwersten Prüfung. Ohne Mühe wäre es ihm möglich gewesen, in eins der schönen Regimenter, die in Besançon in Garnison standen, einzutreten. Auch hätte er Lateinlehrer werden können. Zu seinem Unterhalt hätte er blutwenig nötig gehabt. Aber dann war es mit der Priesterlaufbahn aus und mit jedweder höheren Zukunft. Nicht mehr hoch hinaus wollen, war ihm gleichviel wie Sterben.
»In meinem Dünkel habe ich mich oft erhaben gefühlt, weil ich anders bin als alle diese Bauernjungen«, sagte er sich eines Morgens. »Aber ich bin doch alt genug, um eines zu erkennen: Anders sein zeugt Haß!«
Zu dieser großen Wahrheit kam er durch einen seiner schmerzlichen Mißerfolge. Er hatte sich eine volle Woche lang Mühe gegeben, einem Kameraden zu gefallen, der im Rufe der Heiligkeit stand. Er ging mit ihm im Hofe spazieren und hörte ergeben seinen dummen und sterbenslangweiligen Reden zu. Plötzlich zog ein Gewitter auf. Es donnerte. Da stieß ihn der Heilige derb von sich und schrie ihm zu: »Hören Sie das Gewitter? In dieser Welt ist jeder sich selbst der Nächste! Ich habe keine Lust, vom Blitz erschlagen zu werden. Weiß ich, ob Gott Sie nicht niederschmettern will als einen Gottlosen, als einen Voltaire?«
Julian knirschte vor Wut mit den Zähnen. Mit aufgerissenen Augen starrte er gen Himmel, den ein greller Blitz zerriß. »Wahrlich«, rief er aus, »wenn ich während des Sturmes schlafe, verdiene ich weggeschwemmt zu werden! Versuchen wir es mit einem andern Pedanten!«
Es läutete zur Biblischen Geschichte beim Abbé Castanède.
Die Bauernjungen, diese durch die Armut und Arbeit ihrer Väter belasteten Duckmäuser, wurden von Castanède belehrt, daß die ihnen so schreckliche Einrichtung, die weltliche Obrigkeit, wirkliche rechtmäßige Macht lediglich aus der Hand des Stellvertreters Christi auf Erden habe. Dabei dozierte der Abbé:
»Zeigt euch der Gnade Seiner Heiligkeit würdig durch frommen