Название | Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher |
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Автор произведения | Стендаль |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026824862 |
Diese und ähnliche Erkenntnisse, zu denen alles, was im Seminar offiziell gesagt ward, im Widerspruche stand, gingen Julian allmählich auf und drückten ihn in tiefe Schwermut. Er war sehr fleißig, und er eignete sich mit Leichtigkeit eine Menge Dinge an, die für einen Geistlichen sehr nützlich sind, wiewohl sie ihn insgeheim unwahr und unrichtig dünkten und ihn im Ureigensten gar nicht ergriffen. Er glaubte, nichts andres tun zu dürfen.
Er hielt sich für völlig vergessen von der Welt, in der er ehedem gelebt, wußte er doch nicht, daß der Seminardirektor mehrere Briefe mit dem Poststempel Dijon erhalten und ins Feuer geworfen hatte, Briefe, die bei aller Gemessenheit in der Form die wildeste Leidenschaft der mit einem einzigen Buchstaben unterzeichneten Absenderin verrieten. Unverkennbar war ihre Reue so groß wie ihre Liebe. »Gott sei Dank«, dachte Pirard, »es war wenigstens keine Gottlose, die der junge Mann geliebt hat!«
Eines Tages kam wiederum ein Brief, dessen Schriftzüge sichtlich von Tränen halbverwischt waren. Es war ein Lebewohl für immer. »Endlich« – hieß es darin – »schenkt mir der Himmel Gnade, die Gnade des Hasses, nicht gegen den Urheber meiner Sünde, denn der wird mir stets das Liebste auf Erden bleiben, aber gegen meine Sünde selbst. Das Opfer ist vollbracht, nicht ohne Tränen, wie Du siehst. Das Wohl derer, für die ich weiterleben muß, und die auch Du so geliebt hast, siegt über meine Sehnsucht. Der gerechte, aber strenge Gott kann die Verfehlungen ihrer Mutter nicht mehr an ihnen rächen. Lebe wohl, Julian! Sei gerecht gegen die Menschen!«
Der Schluß des Briefes war beinahe unleserlich. In der Nachschrift stand eine Adresse in Dijon. Jedoch hoffe die Schreiberin, daß sie keine Antwort erhalte oder nur eine, die eine zur Tugend zurückgekehrte Frau ohne Scham lesen könne.
Julian erhielt auch diesen Brief nicht.
Seine Melancholie verschlimmerte sich durch die mäßige Kost im Seminar, die ein Pachtwirt für dreiundachtzig Centime den Tag lieferte. Seine Gesundheit begann zu verfallen. Da erschien eines Morgens sein alter Freund Fouqué in seiner Zelle.
»Endlich hat man mich hereingelassen«, sagte er. »Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, aber ich bin schon fünfmal nach Besançon gekommen, um dich zu besuchen. Von Einlaß keine Rede. Vergeblich habe ich einen Posten vor dem Seminar aufgestellt. Zum Kuckuck, warum gehst du nie aus?«
»Weil ich mir als Probe auferlegt habe, es nicht zu tun.«
»Ich finde dich sehr verändert. Habe dich lange nicht gesehen. Diesmal haben mir zwei blanke Taler das Tor geöffnet. Ich Esel hätte dieses Mittel gleich beim erstenmal anwenden sollen!«
Sie unterhielten sich über tausend Dinge. Mit einemmal ward Julian verlegen, als Fouqué harmlos berichtete: »Übrigens, weißt du schon, die Mutter deiner Zöglinge ist überfromm geworden?«
Julian hatte das eigentümliche Gefühl, das glühenden Seelen widerfährt, wenn jemand ahnungslos an ihr Heiligtum rührt.
»Ja, ja, mein Lieber«, erzählte der Freund weiter. »Toll fromm ist sie geworden. Man sagt, sie mache Wallfahrten. Nur vom Abbé Maslon, der dem armen alten Chélan immer nachspioniert hat, will sie zu seiner unauslöschlichen Schande nichts wissen. Sie geht nach Dijon oder Besançon zur Beichte …«
»Nach Besançon geht sie?« unterbrach ihn Julian, dunkelrot werdend.
»Ziemlich häufig«, erwiderte Fouqué.
Er wurde stutzig.
»Hast du ein paar Nummern vom Constitutionnel bei dir?«
»Was sagst du?«
»Ich frage dich, ob du ein paar Constitutionnels bei dir hast?« wiederholte Julian im ruhigsten Tone der Welt. »Man muß hier drei Groschen für die Nummer zahlen.«
Fouqué lachte.
»Also sogar im Priesterseminar gibts Liberale!« Und in der Heuchlerart des Abbé Maslon setzte er hinzu: »Armes Frankreich!«
Dieser Besuch hätte eine große Wirkung auf Julian gehabt, wenn er nicht schon am nächsten Tage durch eine Bemerkung seines kleinen Landsmannes, der ihm wie ein Kind vorkam, zu einer wichtigen Selbsterkenntnis gelangt wäre. Mit einemmal sah er in seinem Benehmen, seit er im Seminar war, eine Reihe verfehlter Maßregeln. Bitter spottete er über sich selbst.
In Wirklichkeit war seine Aufführung im großen und ganzen klug gewesen. Nur hatte er bisher den Kleinigkeiten zu wenig Wert beigemessen. Die Schlauen im Seminar sahen in den Kleinigkeiten die Hauptsache. Sie hatten ihn in Hinsicht auf diese kleinen Dinge beobachtet und hatten festgestellt, daß er Grütze im Kopfe hatte. Gleichwohl erklärte man ihn eines Riesenfehlers für überführt: er dachte und verriet ein selbständiges Urteil, statt daß er Autorität und Tradition blind anerkannte.
Der Abbé Pirard hatte Julian nichts genützt. Außerhalb des Beichtstuhles hatte ihn der Direktor kein einziges Mal angesprochen, und selbst bei der Beichte hatte er ihm mehr zugehört denn selbst etwas gesagt. Das wäre ganz anders gewesen, wenn sich Julian den Abbé Castanède zum Beichtvater gewählt hätte.
Von dem Augenblick an, wo Julian seine Unklugheit erkannte, langweilte und ärgerte er sich nicht mehr. Er wollte das Übel an der Wurzel fassen, und so gab er sein beharrliches und hochmütiges Sichabsondern auf, durch das er seine Kameraden vor den Kopf gestoßen hatte. Aber jetzt rächten sich seine früheren Fehler. Man nahm sein Entgegenkommen mit Verachtung, ja mit Hohn auf. Jetzt sah Julian, daß seit seinem Eintritt in das Seminar keine Stunde verstrichen war, besonders in den Pausen, in denen man nicht für oder wider ihn Stellung genommen hatte. Er hatte sich viele Feinde gemacht, wenn er sich auch das Wohlwollen einzelner, die wirklich fromm und nicht so ordinär wie die Mehrzahl waren, erworben hatte. Es war ungeheuer viel wieder gutzumachen, und das war durchaus nicht leicht. Fortan war er unablässig auf seiner Hut. Sein Ziel war es nun, sich als völlig gewandelter Mensch zu präsentieren.
Er hatte schwere Arbeit an sich selbst. Zum Beispiel machten ihm seine Augen viel zu schaffen. »Man muß sie wohlweislich an frommen Orten zu Boden schlagen. Wie dünkelhaft war ich doch in Verrières«, gestand er sich. »Ich glaubte in der Welt zu sein, aber dort, das war nur eine Vorstufe. Hier erst bin ich in der Welt, so wie ich sie vor mir haben werde, bis ich meine Rolle ausgespielt habe. In der Welt sein, heißt von wahren Feinden umgeben sein. In allen Augenblicken heucheln zu müssen, ist maßlos schwer. Die Arbeiten des Herkules sind nichts dagegen. Ein moderner Herkules war Papst Sixtus der Fünfte, gegen Ende des Cinquecento. Fünfzehn Jahre lang hat er vierzig Kardinale getäuscht, die ihn als hochmütigen lebhaften jungen Mann gekannt hatten, indem er vor ihnen den Demütigen spielte.«
Ärgerlich fuhr er fort: »Die Wissenschaften gelten also in diesem Hause nichts. Fortschritte in der Dogmatik und in der Kirchengeschichte werden nur zum Schein anerkannt. In Wirklichkeit hat alles, was in diesen Gebieten vorgetragen wird, nur den Zweck, Narren wie mich in die Falle zu locken. Zum Teufel, gerade diesem Plunder gegenüber habe ich rasche Fortschritte gemacht und Auffassungsfähigkeit gezeigt. Das war meine einzige Leistung. Und darauf war ich stolz, ich Tor! Die guten Zensuren, die ich regelmäßig bekomme, haben mir nichts eingebracht als bittere Feinde. Chazel, der mehr Kenntnisse hat denn ich, macht in seine Arbeiten immer absichtlich Fehler hinein, damit er eine mittelmäßige Zensur erhält. Bekommt er einmal die Eins, so ist seine Unachtsamkeit daran schuld … Ach, wie nützlich wären mir ein paar Fingerzeige Pirards gewesen!«
Von der Stunde an, da er klarsah, wandelten sich ihm die langwierigen Übungen in frommer Askese, das Rosenkranzbeten fünfmal in der Woche, das Absingen der Herz-Jesu-Lieder und ähnliche Verrichtungen, die ihm früher zum Sterben öde vorgekommen waren, zu höchst interessanten Betätigungen. Indem er streng über sich nachdachte und sich insbesondre vor der Überschätzung seiner Kräfte hütete, war es ihm nicht wie den Seminaristen, die den andern zum Vorbild dienten, glattweg darum zu tun, jeden Augenblick etwas Bezeichnendes zu vollbringen, d. h. christliche Vollkommenheit an den Tag zu legen. Im Seminar versuchte man durch die Art, das Ei in der Schale zu essen, Fortschritt in der Heiligkeit zu dokumentieren.
Julians Streben ging zunächst dahin, das non culpa zu erreichen, also das Niveau des jungen Seminaristen,