Название | Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher |
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Автор произведения | Стендаль |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788026824862 |
›Ein ganz gewöhnlicher Mensch!‹ sagten die Augen der Gräfin zur Marchesa. Der Gräfin war es zu danken, daß die Angelegenheit nach einstündiger Verhandlung ins reine kam. Ein Gendarm, der in einem Nachbardorfe zu tun hatte, lieh dem General Conti sein Pferd, nachdem ihm die Gräfin gesagt hatte: »Sie bekommen zehn Franken dafür!«
Der Wachtmeister ritt mit dem General weg; die anderen blieben unter einem Baum in Gemeinschaft mit vier großen Flaschen Wein, die der nach dem Gehöft entsandte Gendarm mit Hilfe eines Bauern herbeigebracht hatte. Keiner dachte mehr daran, den Sohn des braven Generals Grafen Pietranera festzunehmen.
Nach den ersten Augenblicken, die der Höflichkeit und der Erörterung des kleinen Zwischenfalls galten, bemerkte Clelia Conti, mit welchem Anflug von Begeisterung die schöne Gräfin mit Fabrizzio sprach; sicherlich war sie nicht seine Mutter. Ihre Aufmerksamkeit wurde besonders erregt durch wiederholte Anspielungen auf etwas Heldenhaftes, Tollkühnes, im höchsten Grade Gefahrvolles, das vor kurzem stattgefunden haben mußte; aber trotz ihrer Klugheit konnte die junge Clelia nicht erraten, worum es sich handelte.
Mit Verwunderung beobachtete sie den jungen Helden, dessen Augen noch das ganze Feuer der Tat zu sprühen schienen. Er seinerseits war ein wenig betroffen über die seltsame Schönheit des jungen zwölfjährigen Mädchens, das unter seinam Blick errötete.
Eine Wegstunde vor Mailand sagte Fabrizzio, er wolle seinen Onkel besuchen, und verabschiedete sich von den Damen.
»Wenn meine Sache günstig ausläuft,« sagte er zu Clelia, »so werde ich mir die schönen Gemälde in Parma ansehen, und vielleicht haben Sie dann die Gnade, sich meines Namens zu erinnern: Fabrizzio del Dongo.«
»Ausgezeichnet!« sagte die Gräfin. »Du verstehst dein Inkognito zu wahren! Signorina, erinnern Sie sich gütigst, daß dieser Schlingel mein Sohn ist und Pietranera, nicht del Dongo heißt!«
Abends, sehr spät, schlich sich Fabrizzio in Mailand durch die Porta Rense ein, die nach einer beliebten Promenade führt. Die Reise der beiden Diener nach der Schweiz hatte die sehr geringen Ersparnisse der Marchesa und ihrer Schwägerin erschöpft. Zum Glück besaß Fabrizzio noch ein paar Goldstücke und einen Diamanten, den man zu verkaufen beschloß.
Die Damen waren in der ganzen Stadt beliebt und bekannt. Die angesehensten Persönlichkeiten von der österreichischen regierungstreuen Partei verwandten sich zugunsten Fabrizzios beim Baron Binder, dem Polizeidirektor. Sie sagten, sie begriffen nicht, wie man den Streich eines sechzehnjährigen Jungen ernst nehmen könne, der sich mit seinem älteren Bruder zankt und ausreißt.
»Es ist mein Beruf, alles ernst zu nehmen«, antwortete mild der Baron Binder, ein kluger und griesgrämiger Mann. Er richtete damals die berüchtigte Mailänder Polizei ein und hatte sich verpflichtet, einer Revolution vorzubeugen wie der von 1746, die die Österreicher aus Genua verjagt hatte. Die Mailänder Polizei, die seitdem durch die Erlebnisse von Silvio Pellico und Andryane so berühmt geworden ist, war nicht eigentlich grausam. Sie waltete verstandesgemäß und mitleidslos nach strengem Gesetz. Kaiser Franz II. wollte die kühne italienische Phantasie durch Schrecken lähmen.
»Geben Sie mir«, wiederholte der Baron Binder Fabrizzios Gönnern, »einen nachweisbaren Bericht, was der junge Marchesino del Dongo Tag für Tag getan hat. Verfolgen wir ihn vom Augenblick seiner Abreise aus Grianta, vom 8. März, bis zu seiner Ankunft gestern abend hier in der Stadt, wo er sich in der Wohnung seiner Mutter verborgen hält, und ich bin bereit, ihn als den liebenswürdigsten, wenn auch übermütigsten jungen Mann in Mailand zu behandeln. Wenn Sie mir aber den Reiseweg des jungen Mannes seit seiner Abreise aus Grianta nicht Tag für Tag angeben können, ist es dann nicht meine Pflicht, ihn trotz seiner vornehmen Geburt und trotz aller Hochachtung vor den Freunden seiner Familie verhaften zu lassen? Muß ich ihn nicht in Haft behalten, bis er mir den Beweis liefert, daß er Napoleon keine Vorschläge überbracht hat von einigen Unzufriedenen, die in der Lombardei unter den Untertanen Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät sein können? Beachten Sie fernerhin, meine Herren, wenn es dem jungen del Dongo gelänge, sich in diesem Punkte zu rechtfertigen, so bliebe er immerhin schuldig, ohne vorschriftsmäßig ausgestellten Paß ins Ausland gegangen zu sein, mehr noch, unter falschem Namen und indem er sich wissentlich eines Passes bediente, der einem einfachen Handwerker ausgestellt war, also einer Person, die tief unter der Klasse steht, der er angehört.«
Diese erbarmungslos logische Erklärung wurde mit allen Zeichen der Ergebenheit und Hochachtung gegeben, die das Polizeioberhaupt der hohen Stellung der Marchesa del Dongo und den angesehenen Persönlichkeiten schuldete, die gekommen waren, sich für sie ins Mittel zu legen.
Die Marchesa war in Verzweiflung, als sie die Antwort des Barons Binder erfuhr.
»Fabrizzio wird verhaftet werden,« rief sie weinend, »und wenn er einmal im Gefängnis ist, weiß Gott, wann er wieder herauskommt. Sein Vater wird ihn verleugnen.«
Die Pietranera und ihre Schwägerin hielten mit zwei oder drei vertrauten Freunden Rat, und was sie auch sagen mochten, die Marchesa wollte ihren Sohn durchaus sofort abreisen lassen.
»Aber du siehst doch,« sagte die Gräfin zu ihr, »daß der Baron Binder weiß, daß dein Sohn hier ist. Dieser Mann ist keineswegs bösartig.«
»Nein, aber er will sich beim Kaiser Franz beliebt machen.«
»Aber wenn er es für seine Laufbahn nützlich hielte, Fabrizzio ins Gefängnis zu werfen, so wäre er längst drin. Es hieße ihm ein beleidigendes Mißtrauen bezeigen, wenn man ihn flüchten ließe.«
»Aber uns eingestehen, daß er weiß, wo Fabrizzio ist, heißt uns sagen: ›Laßt ihn fliehen!‹ Nein, ich kann nicht aufatmen, solange ich mir wiederholen muß: In einer Viertelstunde kann mein Sohn zwischen vier Kerkermauern sitzen! Wie es auch mit Baron Binders Ehrgeiz stehen mag,« fuhr die Marchesa fort, »es dünkt ihn vorteilhaft für seine persönliche Stellung hierzulande, einem Mann vom Range meines Gatten gegenüber Zurückhaltung zur Schau zu tragen, und ich sehe den Beweis dafür in dieser sonderbaren Offenherzigkeit, mit der er bekennt, er wisse, wo mein Sohn zu fassen sei. Noch mehr: der Baron erläutert freundlichst die beiden Übertretungen, deren Fabrizzio durch die Anzeige seines würdelosen Bruders beschuldigt ist. Er weist darauf hin, daß beide Übertretungen Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Heißt das alles nicht: Wenn wir die Verbannung vorziehen, so steht die Wahl bei uns?«
»Wenn du die Verbannung wählst,« wiederholte die Gräfin immer wieder, »werden wir ihn im Leben nicht wiedersehen.«
Fabrizzio war bei der ganzen Unterhaltung zugegen, ebenso ein alter Freund der Marchesa, jetzt Rat an dem von den Österreichern eingesetzten Gerichtshof. Fabrizzio war durchaus dafür, sich aus dem Staube zu machen; und in der Tat verließ er am Abend den Palast, in dem Wagen versteckt, mit dem seine Mutter und seine Tante zur Scala fuhren. Der Kutscher, dem man mißtraute, kehrte wie gewöhnlich in einem Wirtshaus ein, und während der Diener, ein zuverlässiger Mann, die Pferde bewachte, schlüpfte Fabrizzio, als Bauer verkleidet, aus dem Wagen und verließ die Stadt. Am nächsten Morgen kam er mit gleichem Glück über die Grenze, und einige Stunden später war er auf einem Landgut, das seine Mutter in Piemont besaß. Es lag nahe bei Novara, genauer bei Romagnano, wo Bayard gefallen ist.
Man kann sich denken, mit welcher Aufmerksamkeit die Damen in ihrer Loge in der Scala der Oper zuhörten. Sie waren nur hingegangen, um einige Freunde befragen zu können, die zur liberalen Partei gehörten und deren Erscheinen im Palazzo del Dongo von der Polizei übel gedeutet werden konnte. In der Loge wurde beschlossen, einen neuen Schritt beim Baron Binder zu unternehmen. Jenem hohen Beamten, einem durchaus ehrenhaften Manne, Geld zu bieten, war