Название | Die Welt von Gestern |
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Автор произведения | Стефан Цвейг |
Жанр | Языкознание |
Серия | Stefan-Zweig-Reihe |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955014070 |
Dass ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je beschlossen gewesen. Aber für welche Fakultät mich entscheiden? Meine Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum, der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig welchen. Und sonderbarerweise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch heute nicht verschwundenes Misstrauen gegen jeden akademischen Betrieb. Für mich ist Emersons Axiom, dass gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, dass man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, dass Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, dass ein Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. Insbesondere an einer Universität wie der unsern in Wien mit ihren sechs- oder siebentausend Studenten, die durch Überfüllung den so fruchtbaren persönlichen Kontakt zwischen Lehrern und Schülern von vornherein hemmte und überdies durch allzu große Treue zu ihrer Tradition gegen die Zeit zurückgeblieben war, sah ich nicht einen einzigen Mann, der mich für seine Wissenschaft hätte faszinieren können. So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloss mich schließlich für Philosophie – oder vielmehr ›exakte‹ Philosophie, wie es bei uns nach dem alten Schema hieß –, aber wahrhaftig nicht aus einem Gefühl innerer Berufung, denn meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten, alles rein Theoretische und Metaphysische bleibt mir unerlernbar. Immerhin war hier das rein stoffliche Gebiet am eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in der ›exakten‹ Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was not tat, war, am Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und einige Prüfungen zu machen. So legte ich mir von vornherein eine Zeiteinteilung zurecht: drei Jahre um das Universitätsstudium mich überhaupt nicht bekümmern! Dann in dem einen letzten Jahr in scharfer Anstrengung den scholastischen Stoff bewältigen und irgendeine Dissertation rasch fertigmachen! Dann hatte die Universität mir gegeben, was einzig ich von ihr wollte: ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und für die Bemühung in der Kunst: universitas vitae.
Überblicke ich mein Leben, so kann ich mich an wenige so glückliche Augenblicke erinnern wie jene ersten dieser Universitätszeit ohne Universität. Ich war jung und hatte darum noch nicht das Gefühl der Verantwortung, Vollendetes leisten zu müssen. Ich war leidlich unabhängig, der Tag hatte vierundzwanzig Stunden, und alle gehörten mir. Ich konnte lesen und arbeiten, was ich wollte, ohne irgend jemandem Rechenschaft schuldig zu sein, die Wolke der akademischen Prüfung rührte noch nicht an den hellen Horizont, denn wie lang sind drei Jahre, gemessen am neunzehnten Lebensjahr, wie reich, wie füllig und wie voll von Überraschungen und Geschenken kann man sie gestalten!
Das erste, was ich begann, war, meine Gedichte in einer – wie ich meinte: unerbittlichen – Auslese zu sammeln. Ich schäme mich nicht, zu bekennen, dass mir eben absolvierten neunzehnjährigen Gymnasiasten als der süßeste Geruch auf Erden, süßer als das Öl der Rosen von Schiras, damals jener der Druckerschwärze erschien; jede Annahme eines Gedichts in irgendeiner Zeitung hatte meinem von Natur aus sehr schwachbeinigen Selbstbewusstsein einen neuen Anschwung gegeben. Sollte ich nicht jetzt schon ansetzen zu dem entscheidenden Sprunge und die Veröffentlichung eines ganzen Bandes versuchen? Der Zuspruch meiner Kameraden, die mehr an mich glaubten als ich selbst, entschied. Ich sandte das Manuskript verwegen genug gerade an jenen Verlag, der damals der repräsentative für deutsche Lyrik war, Schuster & Löffler, die Verleger Liliencrons, Dehmels, Bierbaums, Momberts, jener ganzen Generation, die zugleich mit Rilke und Hofmannsthal die neue deutsche Lyrik geschaffen. Und – Wunder und Zeichen! – es kamen einer nach dem andern jene unvergesslichen Glücksaugenblicke, wie sie sich im Leben eines Schriftstellers auch nach den größten Erfolgen nicht mehr wiederholen: es kam ein Brief mit dem Signet des Verlags, den man unruhig in Händen hielt, ohne den Mut, ihn zu öffnen. Es kam die Sekunde, wo man angehaltenen Atems las, dass der Verlag sich entschlossen habe, das Buch zu veröffentlichen und sich sogar das Vorrecht für die folgenden ausbedinge. Es kam das Paket mit den ersten Korrekturen, das man mit maßloser Erregung aufschnürte, um die Type zu sehen, den Satzspiegel, die embryonale Gestalt des Buchs, und dann nach wenigen Wochen das Buch selbst, die ersten Exemplare, die man nicht müde wurde zu beschauen, zu betasten, zu vergleichen, einmal und noch einmal und noch einmal. Und dann die kindische Wanderung zu den Buchläden, ob sie schon Exemplare in der Auslage hätten und ob sie in der Mitte des Ladens prangten oder bescheiden am Rande sich versteckten. Und dann das Warten auf die Briefe, auf die ersten Kritiken, auf die erste Antwort aus dem Unbekannten, dem Unberechenbaren – alle diese Spannungen, Erregungen, Begeisterungen, um die ich jeden jungen Menschen heimlich beneide, der sein erstes Buch in die Welt wirft. Aber dies mein Entzücken war nur eine Verliebtheit in den ersten Augenblick und keineswegs Selbstgefälligkeit. Wie ich bald selbst über diese frühen Verse dachte, ist durch die einfache Tatsache bezeugt, dass ich nicht nur diese ›Silbernen Saiten‹ (dies der Titel jenes verschollenen Erstlings) nie mehr neu drucken, sondern kein einziges Gedicht daraus in meine ›Gesammelten Gedichte‹ aufnehmen ließ. Es waren Verse unbestimmter Vorahnung und unbewussten Nachfühlens, nicht aus eigenem Erlebnis entstanden, sondern aus sprachlicher Leidenschaft. Immerhin zeigten sie eine gewisse Musikalität und genug Formgefühl, um sie interessierten Kreisen bemerkbar zu machen, und ich konnte mich über mangelnde Aufmunterung nicht beklagen. Liliencron und Dehmel, die damals führenden lyrischen Dichter, gaben dem Neunzehnjährigen herzliche und schon kameradschaftliche Anerkennung, Rilke, der so sehr von mir Vergötterte, sandte mir als Gegengabe für das ›so schön gegebene Buch‹ einen ›dankbar‹ gewidmeten Sonderdruck seiner jüngsten Gedichte, den ich als eine der kostbarsten Erinnerungen meiner Jugend aus den Trümmern Österreichs noch nach England herübergerettet habe (wo mag er heute sein?). Gespenstisch freilich mutete es mich zuletzt an, dass diese erste freundschaftliche Gabe Rilkes an mich – die erste von vielen – vierzig Jahre alt war und die vertraute Schrift mich aus dem Totenreiche grüßte. Die unvermutetste Überraschung von allen jedoch war, dass Max Reger, neben Richard Strauss der größte damals lebende Komponist, sich an mich um die Erlaubnis wandte, sechs Gedichte aus diesem Bande vertonen zu dürfen; wie oft habe ich seitdem davon eines oder das andere in Konzerten gehört – meine eigenen, von mir selbst längst vergessenen und verworfenen Verse durch die brüderliche Kunst eines Meisters hinübergetragen über die Zeit.
Diese unverhofften Zustimmungen, die auch von freundlichen öffentlichen Kritiken begleitet waren, zeitigten immerhin die Wirkung, mich zu einem Schritt zu ermutigen, den ich bei meinem unheilbaren Misstrauen gegen mich selbst nie oder zumindest nicht so frühzeitig unternommen hätte. Schon in der Gymnasialzeit hatte ich außer Gedichten kleinere Novellen und Essays in den literarischen Zeitschriften der ›Moderne‹ veröffentlicht, nie aber mich unterfangen, einen jener Versuche einer mächtigen und weitverbreiteten Zeitung anzubieten. In Wien gab es eigentlich nur ein einziges publizistisches Organ hohen Ranges, die ›Neue Freie Presse‹, die durch ihre vornehme Haltung, ihre kulturelle Bemühtheit und ihr politisches Prestige für die ganze österreichisch-ungarische Monarchie etwa das gleiche bedeutete wie die