Die Welt von Gestern. Стефан Цвейг

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Название Die Welt von Gestern
Автор произведения Стефан Цвейг
Жанр Языкознание
Серия Stefan-Zweig-Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783955014070



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nur geliebt, sondern auch genutzt. Aber wie Friedrich Hebbel einmal schön sagt: »Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« Selten ist ein und derselben Generation beides gegeben; lässt die Sitte dem Menschen Freiheit, so zwängt ihn der Staat ein. Lässt ihm der Staat seine Freiheit, so versucht die Sitte ihn zu kneten. Wir haben besser und mehr die Welt erlebt, die Jugend von heute aber lebt mehr und erlebt bewusster ihre eigene Jugend. Sehe ich heute die jungen Menschen aus ihren Schulen, aus ihren Colleges mit heller, erhobener Stirn, mit heiteren Gesichtern kommen, sehe ich sie beisammen, Burschen und Mädchen, in freier, unbekümmerter Kameradschaft, ohne falsche Scheu und Scham in Studium, Sport und Spiel, auf Skiern über den Schnee sausend, im Schwimmbad antikisch frei miteinander wetteifernd, im Auto zu zweit durch das Land sausend, in allen Formen gesunden, unbekümmerten Lebens ohne jede innere und äußere Belastung verschwistert, dann scheint mir jedes Mal, als stünden nicht vierzig, sondern tausend Jahre zwischen ihnen und uns, die wir, um Liebe zu gewähren, Liebe zu empfangen, immer Schatten suchen mussten und Versteck. Redlich erfreuten Blicks werde ich gewahr, welch ungeheure Revolution der Sitte sich zugunsten der Jugend vollzogen hat, wieviel Freiheit in Liebe und Leben sie zurückgewonnen hat und wie sehr sie körperlich und seelisch an dieser neuen Freiheit gesundet ist; die Frauen scheinen mir schöner, seit ihnen erlaubt ist, ihre Formen frei zu zeigen, ihr Gang aufrechter, ihre Augen heller, ihr Gespräch unkünstlicher. Welch eine andere Sicherheit ist dieser neuen Jugend zu eigen, die niemandem sonst Rechenschaft geben muss über ihr Tun und Lassen als sich selbst und ihrer inneren Verantwortung, die der Kontrolle sich entrungen hat von Müttern und Vätern und Tanten und Lehrern und längst nichts mehr ahnt von all den Hemmungen, Verschüchterungen und Spannungen, mit denen man unsere Entwicklung belastet hat; die nichts mehr weiß von den Umwegen und Heimlichkeiten, mit denen wir uns als ein Verbotenes erschleichen mussten, was sie mit Recht als ihr Recht empfindet. Glücklich genießt sie ihr Lebensalter mit dem Elan, der Frische, der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit, die diesem Alter gemäß ist. Aber das schönste Glück in diesem Glück erscheint mir, dass sie nicht lügen muss vor den andern, sondern ehrlich sein darf zu sich selbst, ehrlich zu ihrem natürlichen Fühlen und Begehren. Mag sein, dass durch die Unbekümmertheit, mit der die jungen Menschen von heute durch das Leben gehen, ihnen etwas von jener Ehrfurcht vor den geistigen Dingen fehlt, die unsere Jugend beseelte. Mag sein, dass durch die Selbstverständlichkeit des leichten Nehmens und Gebens manches in der Liebe ihnen verloren gegangen ist, was uns besonders kostbar und reizvoll schien, manche geheimnisvolle Hemmung von Scheu und Scham, manche Zartheit in der Zärtlichkeit. Vielleicht sogar, dass sie gar nicht ahnen, wie gerade der Schauer des Verbotenen und Versagten den Genuss geheimnisvoll steigert. Aber all dies scheint mir gering gegenüber der einen und erlösenden Wandlung, dass die Jugend von heute frei ist von Angst und Gedrücktheit und voll genießt, was uns in jenen Jahren versagt war: das Gefühl der Unbefangenheit und Selbstsicherheit.

      Universitas vitae

      Endlich war der lang ersehnte Augenblick gekommen, da wir mit dem letzten Jahr des alten Jahrhunderts auch die Tür des verhassten Gymnasiums hinter uns zuschlagen konnten. Nach mühsam bestandener Schlussprüfung – denn was wussten wir von Mathematik, Physik und den scholastischen Materien? – beehrte uns, die wir zu diesem Anlass schwarze feierliche Bratenröcke anziehen mussten, der Schuldirektor mit einer schwungvollen Rede. Wir seien nun erwachsen und sollten durch Fleiß und Tüchtigkeit unserem Vaterlande Ehre machen. Damit war eine achtjährige Kameradschaft zersprengt, wenige meiner Gefährten auf der Galeere habe ich seitdem wiedergesehen. Die meisten von uns inskribierten sich an der Universität, und neidvoll blickten uns diejenigen nach, die sich mit anderen Berufen und Beschäftigungen abfinden mussten.

      Denn die Universität hatte in jenen verschollenen Zeiten in Österreich noch einen besonderen, romantischen Nimbus; Student zu sein, gewährte gewisse Vorrechte, die den jungen Akademiker weit über alle Altersgenossen privilegierten; diese antiquarische Sonderbarkeit dürfte in außerdeutschen Ländern wenig bekannt und darum in ihrer Absurdität und Unzeitgemäßheit einer Erklärung bedürftig sein. Unsere Universitäten waren meist noch im Mittelalter gegründet worden, zu einer Zeit also, da Beschäftigung mit den gelehrten Wissenschaften als etwas Außerordentliches galt, und um junge Menschen zum Studium heranzulocken, verlieh man ihnen gewisse Standesvorrechte. Die mittelalterlichen Scholaren unterstanden nicht dem gewöhnlichen Gericht, durften in ihren Collegien nicht von den Bütteln gesucht oder belästigt werden, sie trugen besondere Tracht, hatten das Recht, sich ungestraft zu duellieren und waren als eine geschlossene Gilde mit eigenen Sitten oder Unsitten anerkannt. Im Lauf der Zeit und mit der zunehmenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, als alle andern mittelalterlichen Gilden und Zünfte sich auflösten, verlor sich in ganz Europa diese Vorrechtsstellung der Akademiker; nur in Deutschland und in dem deutschen Österreich, wo das Klassenbewusstsein immer über das demokratische die Oberhand behielt, hingen die Studenten zäh an diesen längst sinnlos gewordenen Vorrechten und bauten sie sogar zu einem eigenen studentischen Kodex aus. Der deutsche Student legte sich vor allem eine besondere Art studentischer ›Ehre‹ neben der bürgerlichen und allgemeinen zu. Wer ihn beleidigte, musste ihm ›Satisfaktion‹ geben, das heißt, mit der Waffe im Duell entgegentreten, sofern er sich als ›satisfaktionsfähig‹ erwies. ›Satisfaktionsfähig‹ wiederum war nun nach dieser selbstgefälligen Bewertung nicht etwa ein Kaufmann oder ein Bankier, sondern nur ein akademisch Gebildeter und Graduierter oder ein Offizier – kein anderer unter den Millionen konnte der besonderen Art ›Ehre‹ teilhaftig werden, mit einem solchen bartlosen dummen Jungen die Klinge zu kreuzen. Anderseits musste man, um als ›richtiger‹ Student zu gelten, seine Mannhaftigkeit ›bewiesen‹ haben, das heißt, möglichst viele Duelle bestanden haben und sogar die Wahrzeichen dieser Heldentaten als ›Schmisse‹ im Gesicht tragen; blanke Wangen und eine nicht eingehackte Nase waren eines echt germanischen Akademikers unwürdig. So sahen sich die Couleurstudenten, das heißt solche, die einer Farben tragenden Verbindung angehörten, genötigt, um immer neue ›Partien schlagen‹ zu können, sich gegenseitig und andere völlig friedfertige Studenten und Offiziere unablässig zu provozieren. In den ›Verbindungen‹ wurde auf dem Fechtboden jeder neue Student für diese würdige Haupttätigkeit ›eingepaukt‹ und auch sonst in die Gebräuche des Burschenschaftswesens eingeweiht. Jeder ›Fuchs‹, das heißt jeder Neuling, wurde einem Korpsbruder zugeteilt, dem er sklavischen Gehorsam zu leisten hatte und der ihn dafür in den edlen Künsten des ›Komments‹ unterwies, die da waren: bis zum Erbrechen zu saufen, einen schweren Humpen Bier in einem Satz bis zur Nagelprobe (bis zum letzten Tropfen) zu leeren, um so glorreich zu erhärten, dass er kein ›schlapper Bursche‹ sei, oder Studentenlieder im Chor zu brüllen und im Gänsemarsch nachts durch die Straßen randalierend die Polizei zu verhöhnen. All das galt als ›männlich‹, als ›studentisch‹, als ›deutsch‹, und wenn die Burschenschaften mit ihren wehenden Fahnen, bunten Kappen und Bändern samstags zum ›Bummel‹ aufzogen, fühlten sich diese einfältigen, durch ihr eigenes Treiben in einen sinnlosen Hochmut getriebenen Jungen als die wahren Vertreter der geistigen Jugend. Mit Verachtung sahen sie auf den ›Pöbel‹ herab, der diese akademische Kultur und deutsche Männlichkeit nicht gebührend zu würdigen verstand.

      Für einen kleinen Provinzgymnasiasten, der als grüner Junge nach Wien kam, mochte wohl diese Art forscher und ›fröhlicher Studentenzeit‹ als Inbegriff aller Romantik gelten. Noch jahrzehntelang sahen in der Tat die bejahrten Notare und Ärzte in ihren Dörfern weinselig gerührt empor zu den in ihrem Zimmer gekreuzt aufgehängten Schlägern und bunten Attrappen, stolz trugen sie ihre Schmisse als Kennzeichen ihres ›akademischen‹ Standes. Auf uns dagegen wirkte dieses einfältige und brutale Treiben einzig abstoßend, und wenn wir einer dieser bebänderten Horden begegneten, wichen wir weise um die Ecke; denn uns, denen individuelle Freiheit das Höchste bedeutete, zeigte diese Lust an der Aggressivität und gleichzeitige Lust an der Hordenservilität zu offenbar das Schlimmste und Gefährlichste des deutschen Geistes. Überdies wussten wir, dass hinter dieser künstlich mumifizierten Romantik sich sehr schlau berechnete, praktische Ziele versteckten, denn die Zugehörigkeit zu einer ›schlagenden‹ Burschenschaft sicherte jedem Mitglied die Protektion der ›alten Herren‹ dieser Verbindung in den hohen Ämtern und erleichterte die spätere Karriere. Von den Bonner ›Borussen‹ führte der einzig sichere Weg in die deutsche Diplomatie, von den katholischen Verbindungen in Österreich zu den guten Pfründen der herrschenden christlich-sozialen Partei, und die meisten dieser