Название | Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen |
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Автор произведения | Marcel Proust |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027208821 |
Auf einen Augenblick mußte ich Gilberte verlassen, Françoise hatte nach mir gerufen. Ich sollte sie in einen kleinen, grün vergitterten Pavillon begleiten, der den nicht mehr benutzten städtischen Akzisehäuschen des alten Paris ähnelte und in dem seit kurzem eingerichtet war, was man in England ein Lavabo, in Frankreich in schlecht beratener Anglomanie Waterclosets nennt. Aus den feuchten alten Mauern des Eingangs, in dem ich stehen blieb, um Françoise zu erwarten, stieg frisch Geruch von eingeschlossener Luft, der bald die Sorgen linderte, die Swanns mir von Gilberte hinterbrachten Worte erweckt hatten, und mit einer Lust mich durchdrang, nicht von der Art der andern Lustgefühle, die uns unstet und außerstande lassen, sie festzuhalten, zu besitzen, nein, einer Lust, die Bestand hatte, auf die ich mich stützen konnte, die köstlich und friedlich, gesättigt mit nie alternder Wahrheit, unerklärt war und zuverlässig. Gern hätte ich, wie einst auf meinen Spaziergängen in der Gegend von Guermantes, versucht, den Zauber des Eindrucks, der mich ergriffen, zu durchdringen, mich still zu halten, um den ältlichen Dunst zu befragen; der bot mir ja nicht einen Genuß an, den er mir nur als Zuwage gab, er lockte mich, hinabzusteigen in die Wirklichkeit, die er mir nicht enthüllt hatte. Da redete mich die Pächterin des Etablissements an, eine alte Dame mit gipsig geschminkten Backen und roter Perücke. Françoise meinte, sie sei »schon sehr von woher«. Ihre Tochter hatte geheiratet, was Françoise einen jungen Mann von Familie nannte, womit sie ihn triftiger von einem Arbeiter unterschied als Saint-Simon einen Herzog von einem Menschen, der »aus der Hefe des Volkes hervorging«. Ohne Zweifel hatte die Pächterin, ehe sie das geworden war, Schicksalsschläge erfahren. Françoise versicherte, daß sie Marquise sei und der Familie von Saint-Ferréol angehöre. Die Marquise riet mir, nicht im Freien zu bleiben, sie öffnete mir sogar ein Kabinett und sagte: »Wollen Sie nicht eintreten? Hier ist ein ganz sauberes, für Sie kostet es nichts.« Das war vielleicht nur so gemeint wie von den Verkäuferinnen bei Gouache, die, wenn wir eine Bestellung machten, einen von den Bonbons mir anboten, die sie unter Glasglocken vor sich auf dem Ladentisch hatten (ach, Mama verbot mir, ihn anzunehmen), vielleicht auch weniger unschuldig als es die alte Blumenhändlerin meinte, von der Mama sich ihre »Jardinieren« füllen ließ, und die mir eine Rose gab und dabei süße Augen machte. Wie dem auch sei, wenn die »Marquise« Geschmack an jungen Burschen hatte, denen sie die Unterweltspforte zu den steinernen Würfeln öffnete, auf denen die Menschen hocken wie Sphinxe, so mochte sie in ihrer Freigebigkeit weniger auf die Möglichkeit aus sein, sie zu verderben, als auf die Freude, sich gegen ein geliebtes Wesen unbelohnt verschwenderisch zu zeigen; denn nie habe ich bei ihr einen andern Besuch gesehen als einen alten Gartenaufseher.
Bald verabschiedete ich mich von der Marquise, ging mit Françoise fort und verließ sie dann, um zu Gilberte zurückzukehren. Gleich entdeckte ich sie: sie saß auf einem Stuhl hinter dem Lorbeergebüsch. Sie wollte nämlich nicht von ihren Freundinnen gesehen sein: man spielte Verstecken. Ich setzte mich neben sie. Sie trug eine flache Toque, die ziemlich tief über die Augen ging und ihnen jenen träumerisch listigen Blick von unten gab, der mir zum erstenmal in Combray an ihr aufgefallen war. Ich fragte sie, ob sie die Möglichkeit zu einer Aussprache mit ihrem Vater sehe. Gilberte sagte, sie habe ihm das vorgeschlagen, aber er halte es für unnütz. »Da, nehmen Sie mir den Brief wieder ab,« fügte sie hinzu, »ich muß zu den andern, sie haben mich nicht gefunden.«
Wäre Swann hinzugekommen, bevor ich ihn nahm – diesen Brief, von dessen Aufrichtigkeit sich nicht überzeugen lassen zu wollen ich so sinnlos von ihm fand – er hätte vielleicht gesehen, daß er doch recht hatte. Denn als ich mich jetzt Gilberte näherte und sie, im Stuhl zurückgelehnt, mich den Brief nehmen hieß, ohne ihn mir hinzuhalten, fühlte ich mich so von ihrem Körper angezogen, daß ich sagte:
»Versuchen Sie doch, daß ich ihn nicht kriege; wir wollen sehen, wer von uns der Stärkere ist.«
Sie tat ihn hinter sich, ich kam mit den Händen um ihren Hals und schob dabei die Zöpfe hoch, die ihr über die Schultern hingen (vielleicht paßte das noch zu ihrem Alter, oder aber ihre Mutter wollte sie noch länger Kind haben, um sich selbst zu verjüngen), und so rangen wir, eins übers andere gebeugt. Ich suchte, sie an mich zu ziehen, sie widerstand; ihre Backen waren vor Anstrengung heiß, rot und wie Kirschen gerundet; sie lachte, als hätte ich sie gekitzelt; ich hielt sie zwischen meinen Beinen wie ein Bäumchen, das man erklettern will; und mitten in meiner Gymnastik, fast ohne daß dadurch die Atemlosigkeit zunahm, in die Muskelanspannung und Eifer des Spiels mich brachten, goß ich wie Schweiß in der Anstrengung meine Lust aus und konnte nicht einmal lange genug darin verweilen, um ihren Reiz kennen zu lernen. Ich faßte den Brief. Da sagte Gilberte ganz sanft:
»Wissen Sie, wenn Sie wollen, können wir noch einmal ringen.«
Vielleicht hatte sie dunkel gefühlt, mein Spiel ziele auf anderes, als wozu ich mich bekannte, nicht aber bemerkt, daß mein Ziel schon erreicht war. Und in der Furcht, sie habe es dennoch gemerkt (ein Zurückzucken, eine verhaltene Bewegung verletzter Scham, die sie gleich danach hatte, brachte mich auf den Gedanken, daß diese Furcht nicht fehlging), ließ ich mich darauf ein, weiterzuringen; sie sollte nicht merken, was ich im Sinn gehabt und erreicht hatte, und daß danach mein einziges Verlangen war, ruhig bei ihr zu bleiben.
Auf dem Heimweg nahm ich als plötzlich aufsteigende Erinnerung ein bislang verborgen gebliebenes Bild wahr, dem mich schon der frische Geruch des vergitterten Pavillons – fast wie Ruß roch es – nahe gebracht hatte, doch noch ohne daß ich es sah oder wiedererkannte. Es war das Bild des kleinen Zimmers meines Onkels Adolphe in Combray; das strömte denselben feuchten Duft aus, aber ich konnte nicht begreifen und verschob auf später, zu forschen, warum die Wiederkehr eines so unwesentlichen Bildes solch eine Glückseligkeit mir gegeben hatte. Einstweilen meinte ich wirklich, die Verachtung des Herrn von Norpois zu verdienen; bisher hatte ich von allen Schriftstellern den am liebsten gehabt, von dem er sagte: »Das ist nur ein Flötenspieler«, und innerstes Entzücken war mir nicht durch eine große Idee, sondern durch einen Modergeruch mitgeteilt worden.
Seit einiger Zeit wurde in manchen Familien das Wort »Champs-Élysées«, wenn ein Besucher es aussprach, von den Müttern mit der mißgünstigen Miene beantwortet, die man für einen Arzt von Ruf in Bereitschaft hält, der angeblich in seinen Diagnosen zu oft geirrt hat, um noch Vertrauen zu verdienen; man versicherte, dieser Park bekäme den Kindern nicht gut, mehr als ein Fall von Halsweh oder Masern und zahlreiche Fieberanfälle ließen sich aufzählen, an denen er schuld sei. Ohne an der zärtlichen Fürsorge meiner Mutter, die mich immer noch hinschickte, offen zu zweifeln, beklagten Freundinnen von ihr, wie unbelehrbar sie sei.
Nervenleidende sind vielleicht der landläufigen Meinung zum Trotze diejenigen, die am wenigsten »auf sich achtgeben«; sie nehmen vieles an sich wahr, was sie unnötig aufregt, wie sie nachträglich feststellen, und beachten dann schließlich kein Symptom mehr. Allzu oft hat ihr Nervensystem Alarm geschlagen, wie bei einer schweren Krankheit, wenn einfach nur ein Schneefall drohte oder ein Umzug bevorstand, und so gewöhnen sie sich schließlich daran, nicht mehr auf solche Warnungen zu achten als ein Soldat, der sie im Eifer des Kampfes kaum wahrnimmt und sterbenskrank doch noch auf einige Tage das Leben eines kerngesunden Menschen weiterführen will. Eines Morgens regten sich in mir die gewohnten Beschwerden alle auf einmal, von deren beständiger Zirkulation in meinem Innern mein Bewußtsein sich immer wegwandte wie etwa von der Zirkulation des Blutes. In diesem Zustand lief ich munter ins Eßzimmer, wo meine Eltern schon bei Tische saßen; ich sagte mir wie gewöhnlich, Frieren bedeute nicht, daß man sich wärmen müsse, sondern zum Beispiel, daß man gescholten worden sei, und keinen Hunger haben, daß es regnen werde, und nicht, man dürfe nicht essen; ich setzte mich zu Tisch: da hielt mich, als ich gerade den ersten Bissen eines verlockenden Koteletts hinunterschlucken wollte, Übelkeit und ein Schwindel zurück, der fieberige Protest einer beginnenden Krankheit, deren Symptome meine Gleichgültigkeit bisher maskiert hatte. Jetzt