Wendigkeit ging er aus dem Wege. Später kam erst das Deutsche daran, aber die Muttersprache machte seiner Zunge noch mehr zu schaffen. Das Kind galt deshalb im Hause für unbegabt, besonders sein Zio (Onkel) Edgar, der gewohnt war, alle Begabung in der Familie zuerst sich auf sprachlich-poetischem Gebiet äußern zu sehen, glaubte diesem kleinen Neffen wenig Glanz für die Zukunft prophezeien zu dürfen. Ich wusste auch nicht, was von den Anlagen meines Lieblings denken, wenn ich sah, dass es der Nonna (Großmutter) nie gelang, ihm den Trojanischen Krieg, mit dem sie ihre sämtlichen Kinder entzückt hatte, auch nur zu Ende zu erzählen und dass ich selber seine Aufmerksamkeit ebensowenig durch ein Grimmsches Märchen zu fesseln vermochte. Seine Augen gingen währenddessen rundum spazieren und blieben an allen Gegenständen hängen, nicht mit der Gedankenlosigkeit des unbegabten sondern mit der Unachtsamkeit eines anderweitig beschäftigten Kindes. Erst als er zu zeichnen anfing, erkannte man, wie genau der Knabe die sichtbaren Dinge in sich aufgenommen hatte und wie bei ihm alle Wahrnehmung durch das Auge ging; hatte er doch schon als Anderthalbjähriger einmal vor einem Waldeingang seine Großmutter, als sie ihn einen falschen Weg tragen wollte, durch Schreien und Strampeln auf den Irrtum aufmerksam gemacht. Beim Größerwerden gab er sich am liebsten mit Zeichnen und Modellieren von Rittern zu Pferde ab und stolzierte dann auch selbst als Ritter durch den Garten, bis einmal die Ritterschaft mit ihm durchging, dass er wie ein richtiger kleiner Orlando furioso mit seinem hölzernen Schlachtschwert in unserem herrlichen Lilienbeet wütete und eines der blühenden Häupter ums andere niederlegte, wonach er stolz vor seine Mutter trat: Ich habe gekämpft und habe sie alle erschlagen. Ein Tag der Trauer in den Annalen des Hauses. Als er endlich sprechen lernte, deutsch und italienisch, gelangen seiner Unschuld wahrhaft dämonische Einfälle, wie sie ein abgefeimter Kobold gerne auf ahnungslose Kinderlippen legt. So einmal gegen den König Karl von Württemberg, als dieser den Winter mit seinem Hofstaat in Florenz verbrachte und unseres Tholes warmer Gönner und Spielkamerad geworden war. Der Knabe bedrängte ihn immerzu, dass er ihm seine Krone zeige, und eines Tages fragte er ihn mit allem Schmelz seines Schmeichelstimmchens: Bist du der Erlkönig oder bist du der König von das Kartenspiel? – zwei Fragen, wie sie unter den obwaltenden Umständen nicht anzüglicher gestellt werden konnten. – Dieser wohlgesinnte, um seiner Weltfremdheit willen vielfach verkannte Monarch war immer glücklich, wenn er Mensch mit Menschen sein konnte. Als er den Kleinen auf der Straße zum ersten Male sah, ließ er den Wagen halten und stieg selber aus, um ihn zu begrüßen. Siehst du, sagte er ihm, wenn du ein Prinz wärest, so würde ich sitzenbleiben, aber vor dem Enkel von Hermann Kurz steigt der König aus dem Wagen. Thole ließ sich solchen Vorzug recht gern gefallen, und als ihm sein Rechenlehrer befahl, ihn mit Sie anzureden, antwortete der Kleine unbedenklich, wenn er zum König Du sagen dürfe, werde er zu ihm nicht Sie sagen. Seine Eltern sagten von ihm damals, er habe das »bordierte Hütlein« seines Ururahns auf, jenes Reutlinger Senators mit dem spanischen Leibfluch, der so viel auf seine Würde hielt, dass er einmal einem Gänserich, der es wagte ihn unter diesem Abzeichen anzuschnattern, mit seinem Ehrendegen den Kopf abhieb. Es hieß von diesem bordierten Hütlein, dass es durch alle Folgegeschlechter immer bei irgendeinem Träger des alten Namens wieder habe zum Vorschein kommen müssen. In der jüngsten Generation trug es unser Thole. Er verstand es trefflich schon als Kind, sich zur Geltung zu bringen. Wenn ihm ein Wunsch abgeschlagen wurde, so warf er sich zu Boden und schrie so lange: Thole vuole! (Thole will!), bis er bekam, was er verlangte. Bei diesem Kinde war kein Aufkommen weder gegen seine Unart noch gegen seine Liebenswürdigkeit. Wenn die Eltern einmal festblieben, so beeilte sich die Nonna ihm den Willen zu tun.
Eines Tages hatten wir allesamt in der Villa Giusti auf dem Romito Besuch gemacht. Auf dem Heimweg, da seine Mutter sein kleines Schwesterchen trug, setzte sich’s der fast vierjährige Bub in den Kopf, auch getragen zu werden, und zwar von mir. Er bat und bettelte: Trag mich, trag mich, wenn ich groß bin, trag ich dich. Ich nahm ihn auf, und ob ich wollte oder nicht, ich musste den schweren Jungen, der sich anklammerte und nicht mehr von meinem Arm herunterging, die weite Strecke vom Romito bis in die Via delle Porte nuove durch den Staub und die Müdigkeit des heißen Sommerabends tragen, wobei er immerzu seine Versicherung erneuerte, mir, wenn er groß sei, den Dienst erwidern zu wollen. Als ich ihn endlich zu Hause abstellte, schärfte ich ihm ein, dass ich ihn ganz gewiss zu seiner Zeit an dieses Versprechen mahnen würde!
Als er heranzuwachsen begann und nun die Schultage kamen – jene Tage, von denen es bei ihm hieß: sie gefallen mir nicht –, da legte unser Thole vorerst gar keine Ehre ein. In der deutschen Schule von Florenz lernte er nicht, streunte herum und gaffte die Häuser an: dass er schon damals, so klein er war, die großen Kunstdenkmäler, für die Kinder sonst so früh keinen Sinn haben, in seine Vorstellungswelt aufnahm, sollte sich erst später erweisen, zunächst beunruhigten sich die Freunde des Hauses und drangen in mich den Vater zu warnen; was sollte denn einmal aus dem kleinen Tagedieb werden? – Dies war die Antrittsrolle eines Menschen, der später nicht eine Minute unausgenützt und unausgekostet ließ, indem er die vierundzwanzig Stunden des Tages durch Ausdehnung auf die doppelte Zahl zu bringen wusste. Denn kaum waren seine Eltern mit ihm nach München gezogen, um ihn dort in die strenge deutsche Schulordnung zu bringen, so erwachte in dem Knaben der brennende Ehrgeiz, der ihn durchs Leben führen sollte, »immer der Erste zu sein und vorzustreben den andern«. Darin kam ihm nicht nur seine starke Begabung und der rastlose Eifer zustatten, sondern auch der Vorteil, dass er die Weite einer schon in sich aufgenommenen hohen Kulturwelt in die engen Begriffe der Schule mitbrachte.
Als Sechzehnjährigen sah ich ihn bei einem Besuch in München wieder, schön und schlank mit der schwingenden Kraft seiner von der südlichen Sonne frühe geschmeidigten und jetzt schon in aller Art von Sport geübten Glieder. Und da ergab sich’s, dass ihn die Zia an die Erfüllung seines kindlichen Versprechens mahnen konnte. Ich hatte durch die Lösung eines Preisrätsels ein feines Damenfahrrad gewonnen, und natürlich wurmte mich’s nun, dass ich nicht fahren konnte, weil weder die engen Straßen noch die ansteigenden Höhen von Florenz zum Fahrenlernen sehr geeignet waren. Ich nahm daher das Fahrrad auf die Reise mit, und in Bogenhausen wo ich ein abgelegenes Landgut bewohnte, hatte nun der Neffe als Fahrlehrer Gelegenheit, den in der Kindheit empfangenen Dienst zu vergelten, denn bei der Anziehungskraft, die jeder ragende Gegenstand, sei es Baum oder Pfosten, auf den Fahrschüler übt, lag die Zia jeden Augenblick samt dem Fahrrad in seinen Armen. Was war damals schon für ein gewandter, weltoffener, in vielen Sätteln gerechter Mensch aus dem kleinen