Название | Ein Kind unserer Zeit |
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Автор произведения | Odon von Horvath |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027227877 |
Aus dem Lautsprecher tönt ein leiser Walzer. Es ist eine alte Musik. Sie wird immer übertönt, diese Musik, durch Gelächter und Gekreisch. Das sollen die Leute von sich geben, die drinnen sind. Man solls nämlich draußen hören, daß es ihnen drinnen gefällt. Aber ich kenne das schon.
Alles Schwindel!
Es ist eine Grammo phonplatte, diese ganze laute Freude nur um das Publikum anzulocken. Es ist nichts dahinter, und ich fall nicht drauf rein, auf solche Narrenpaläste, in denen man das Gruseln lernen soll. Das ist mir zu blöd.
Ich will schon wieder zurück, da blicke ich nach dem Eingang, ohne mir dabei etwas zu denken, gewissermaßen automatisch. Und ich halte an. Oder wars mir nur so, und ich bin weiter? Möglich. Aber nach zwei Schritten halte ich tatsächlich und schaue noch immer hin.
Es ist jetzt ganz finster geworden, und ich steh in der Nacht. An der Kasse des verwunschenen Schlosses sitzt eine junge Frau. Sie rührt sich nicht. Es kommt kein Mensch.
Und einen Augenblick lang ist mir alles so fern, die ganze Welt, und ich denke, das Herz bleibt stehen. Es rührt sich kein Blatt, nur aus dem verwunschenen Schlosse tönt leise die alte Musik.
Sie hat große Augen, die junge Frau, aber es waren nicht ihre Augen, nicht der Mund und nicht die Haare – ich glaube, es war eine Linie Doch was red ich da?! Lauter Unsinn!
Ich weiß ja nur, daß ich stehenblieb, als wär plötzlich eine Wand vor mir Unsinn, Blödsinn, geh weiter! Ich gehe weiter und stolpere. Über was? Über nichts. Es ist ja nichts da.
Aber nun lächelt die Frau, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer.
Ich betrachte sie genau. Da schaut sie nicht mehr her. Sie nimmt einen Bleistift und schreibt vor sich hin – oder tut sie nur so, damit sie mich nicht sieht?
Warum will sie mich denn nicht sehen? Wahrscheinlich weil ich ihr nicht gefall. Sie wird schon einen haben, irgendeinen Budenkönig. Einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – Geh weiter!
Ich geh, aber ich komme nicht weit. Nur über die Straße. Dort steht ein Eismann, und ich kaufe mir ein Eis. Ich kanns noch genau sehen, das verwunschene Schloß und die schreibende Frau.
Es kommt noch immer kein Mensch. Ich schlecke mein Eis. Es schmeckt nach nichts. Es ist so kalt, daß ich lange Zähne bekomm wie ein altes Pferd. Es tut schon direkt weh Warum kaufte ich es mir denn nur, dieses gefärbte Zeug? Ich mag ja gar kein Eis!
Und während mir die Zähne immer länger werden, gesteh ichs mir ein, daß ich es mir nur deshalb kaufte, um die Frau dort drüben länger betrachten zu können. Komisch, ich weiß es noch immer nicht, ob sie mir gefallen könnt – ich weiß ja noch gar nicht, wie sie aussieht, wenn sie aufsteht. Vorerst kenn ich nur das von ihr, was über die Kasse herausschaut. Vielleicht ist sie nur eine sogenannte Sitzschönheit. Und wenn sie aufsteht, ist sie vielleicht kleiner, als wenn sie sitzt, oder gleich dreimal so groß – Vielleicht ist sie ganz unproportioniert. Na, gute Nacht! Jetzt schaut sie mich wieder an. Diesmal etwas länger. Und sie lächelt wieder – warum? Weil ich da so grimmig mein Eis schleck? Endlich hab ichs drunten, das miserable Zeug. Da hör ich den Eismann hinter mir: »Noch eine Portion?« »Ja«, sage ich, und schon hatte ich wieder eine in der Hand. Was ist denn mit mir?! Bin ich denn total verblödet?! Was freß ich da die zweite Portion, wenns mir von der ersten schon übel ist?!
Ich mach mich ja noch ganz lächerlich mit meinem Eis, wie ein Schulbub steh ich da, und derweil hab ich doch zwei silberne Stern Und schon wollte ich das Eis wütend auf die Erde hauen, da tauchte aus der Finsternis ein Rittmeister auf. Gottlob bemerkte ich ihn noch im allerletzten Moment und salutierte. Der Rittmeister dankte und ging vorbei. Jetzt lacht sie – natürlich!
Weil ich die Ehrenbezeugung mit dem Eis in der Hand leistete, und so was ist selbstredend lächerlich. Ich bin ja auch blöd, und sie lacht, doch das Gelächter aus dem Lautsprecher übertönt sie. Ich höre sie nicht. Aber jetzt wird’s mir allmählich zu bunt! Jetzt ists mir egal! Jetzt wird reiner Tisch gemacht! Und zwar sogleich, auf der Stell!
Ich hau das Eis auf die Erde, daß es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zum verwunschenen Schloß. Richtung: die Kasse. Direkt auf sie zu. Werden sehen, ob sie noch lacht, wenn ich komm! Sie sieht mich kommen und lacht nicht mehr. Aha!
Sie sieht mich nur groß an, wie ich so näherkomm – groß und ernst. Hast du Angst vor mir? Paß nur auf, jetzt komme ich!
Ich hab schon die letzten drei Stufen, und nun stehe ich vor der Kasse. Sie blickt hinab, ich seh nur ihr Haar. Es ist weich und zart.
Auf dem Pult liegt ein Blatt Papier. Sie hat zuvor nichts geschrieben, sondern nur so herumgekritzelt. Allerhand Linien -
Und ich sage: »Eine Eintrittskarte« – es klang fast streng, und es tat mir leid. »Bitte«, sagt sie.
Zittert ihre Hand? Oder zittere ich? Sie wechselt mein Geld. Ich hatte noch niemand so schön wechseln g esehen. Die Linie, die Linie – muß
ich wieder denken. Und dann betrete ich das verwunschene Schloß. Zuerst wird’s ganz finster, man muß sich vorwärtstappen -rechts und links. Und während ich so tappe, muß ich an ihre Stimme denken, wie sie vorhin »Bitte« gesagt hat. Mir ists, als hätte ich diese Stimme schon gehört, irgendwo, irgendwann – vor einer halben Ewigkeit. Und plötzlich fällts mir auf, daß ich es nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme hatte.
Überhaupt kann ich mich an meine Mutter nicht mehr erinnern. Sie starb ja gleich nach dem Weltkrieg, an der Grippe, noch wie ich ganz klein war -
Oft, wenn ich allein auf Posten stehe, geht’s mir durch den Sinn wie eine alte Wolke, besonders in der Nacht. Was gewesen ist, greift nach mir. Dann seh ich mich zwischen Tisch und Bett. Ich bin drei Jahr, nicht älter Das Fenster ist hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt. Und wenn ich hinausschau, dann seh ich noch nichts. Oder hab ichs inzwischen vergessen?
Heut weiß ich nur, es zog zum Fenster here in – Doch im Ofen brannte kein Feuer. Nach einem Krieg gibt’s oft keine Kohlen. »Es ist kalt«, das ist meine erste Erinnerung. Mein erstes Gefühl, das mir blieb.
Komisch, daß es mir noch niemals eingefallen ist, daß ichs nicht weiß, was meine Mutter für eine Stimme gehabt hat – bumm!
Jetzt wär ich aber fast gestürzt! Da ist ja eine Versenkung, aber nur an der linken Seite, so daß man mit dem linken Bein tiefer gehen muß als mit dem rechten. Zu blöd!
Endlich hab ich das linke Bein wieder auf gleicher Höh, da fall ich mit dem rechten hinab. Also das ist wirklich zu blöd! Ein feines Vergnügen!
Jetzt sitzt sie draußen an ihrer Kasse und lacht, daß ich drin bin. Trotzdem hat sie einen schönen Mund – wenn mich nicht alles täuscht. Wie sieht sie eigentlich aus?
Komisch, ich hab sie doch lange genug betrachtet und weiß es noch immer nicht genau – Warum hab ichs also gefressen, das Eis? Ich bin ein Tepp.
Doch halt! Sie hatte ja den Kopf fast immer gesenkt, weil sie ihre Linien gekritzelt hat, um mich nicht sehen zu müssen – Jaja, diese Linien!
Die sind schuld daran, daß ich jetzt da herumstolpern muß – über laufende Teppiche, wackelnde Brücken, an Särgen vorbei, in denen enthauptete Wachsfiguren liegen, umgeben von Gespenstern, Gehenkten, Geräderten – aber mich schreckt nichts. Da tät ich mir aufrichtig leid.
Ich biege um eine Ecke und begegne einem Skelett. Ich betrachte es aus der Nähe. Es dürfte ein Originalskelett sein, und so sehen wir aus, wenns vorbei ist mit unserem Zauber. Und mit den Linien – Ich reiche dem Knochen