Die Seele Chinas. Richard Wilhelm

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Название Die Seele Chinas
Автор произведения Richard Wilhelm
Жанр Языкознание
Серия Kleine historische Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783843800495



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Li Hung Tschang war in diesen Dingen eher ein Renaissancemensch und hatte die gefangenen Rebellen, die Gordons Ehrenwort hatten, ohne Zögern hinrichten lassen. Alles in allem war er der Meinung, dass das Problem der Anpassung an den Westen leicht zu lösen sei. Die europäischen Waffen hatten in den Kriegen der Westmächte gegen China und im Taipingaufstand ihre Überlegenheit gezeigt; es handelte sich also nur darum, europäische Waffen einzuführen, um die Bedürfnisse der Regierung zu decken. Es kam die Zeit der großen Waffenankäufe Chinas und der Anstellung fremder Militärinstruktoren, von denen mancher, wie z. B. Faltenhayn, sich später einen Namen gemacht hat. In jener Zeit wurde die Marineschule in Futschou und das Arsenal in Schanghai2 gegründet. Damals wurden von seiten des Schanghaier Arsenals auch die ersten Bücher über westliche Wissenschaften ins Chinesische übersetzt. Diese Übersetzungen lassen freilich sehr viel zu wünschen übrig, ganz ähnlich wie die ersten Übersetzungen von Missionaren, aber sie waren wenigstens ein – wenn auch zunächst noch recht wenig beachteter – Anfang einer Umgestaltung des chinesischen Geisteslebens.

      Dann kam der japanische Krieg, durch den klar erwiesen wurde, dass die Waffen allein nicht ausreichen, sondern dass hinter den Waffen der entsprechende Geist stehen müsse. So begann denn nach Li Hung Tschangs Niederlage die zweite Periode in der Umgestaltung der chinesischen Kultur. Diese Periode zeigt bedeutende Schwankungen, und von den Führern der Bewegung sind manche später wieder in andere Richtungen übergegangen oder wurden in der Welt zerstreut.

      Während dieser zweiten Periode lag ein Mittelpunkt der Reform am Yangtse in der alten Stadt Wutsch’ang, die mit Hank’ou und Hanyang zusammen die große Millionenstadt Chinas bildet. Hier saß der Generalgouverneur Tschang Tschï Tung, vielleicht neben Li Hung Tschang der bedeutendste der alten chinesischen Beamten. Aber während Li Hung Tschang mehr ein Mann der Praxis war, der weniger Wert auf Feinheit und Schönheit legte als auf das, was von unmittelbarem Nutzen war, lebte in Tschang Tschï Tung der Geist des mittelalterlichen Konfuzianismus mit seinem Bedürfnis nach Feinheit und Form.

      Darum war die Reformbewegung, die von Tschang Tschï Tung ausging, ganz anderer Art. Erst gehörte er zu einer reaktionären Bewegung, der sogenannten Ts’ing Liu Tang, die den alten chinesischen Geist gegen die neue Zeit verteidigen wollte. Ku Hung Ming, der lange Jahre Sekretär bei Tschang Tschï Tung war und trotz seiner europäischen Erziehung sich durch fanatische Anhänglichkeit an das Alte und grimmige Feindschaft gegen alles Fremde auszeichnet, erzählt von dieser Bewegung, die er mit der Oxford-Bewegung in England vergleicht3. Er überschätzt ihre Bedeutung. Eine Handvoll literarischer Ideologen suchte eine Reaktion in die Wege zu leiten, ohne der Sache gewachsen zu sein. Die ganze Bewegung scheiterte kläglich und bedeutet kaum eine Episode in der Geschichte der chinesischen Reformen.

      Tschang Tschï Tung wandte sich denn auch rechtzeitig von diesen Versuchen ab und wandte sich den jungen aufstrebenden Kantonesen K’ang Yu We, Liang K’i Tsch’ao u. a. zu, die, ohne selbst im Westen gewesen zu sein oder eine europäische Sprache zu sprechen, dennoch davon durchdrungen waren, dass ein Geist strenger Kritik die eigene Kultur zu prüfen habe und dass unter allen Umständen eine Europäisierung der ganzen Gesetze und der Staatsverwaltung notwendig sei. Durch seine Empfehlung erlangten die jungen Reformer das Ohr des Kaisers Kuanghsü, der seit 1889 die Zügel der Regierung in der Hand hatte und seit kurzem sich auch von dem moralischen Einfluss seiner Tante, der Kaiserin-Witwe Tsi Hsi, loszumachen im Begriff war. Und nun beginnt, nachdem das alte System Li Hung Tschangs zusammengebrochen war, die Reformära von 1898. Edikt folgte auf Edikt. Die alten Prüfungen, die seit Jahrtausenden das Sieb waren, durch das die Beamten aus der Masse der Bevölkerung herausgesiebt worden waren, wurden abgeschafft. Schulen nach westlichem Muster sollten allenthalben gegründet, das ganze Staatswesen sollte nach westlichem Muster reformiert werden. Eine allgemeine Bestürzung war die Folge.

      Tschang Tschï Tung war in der größten Verlegenheit. Er schrieb die berühmte Abhandlung über die Notwendigkeit des Lernens. Hier suchte er einen Kompromiss zwischen dem Alten und dem Neuen. Die altheiligen Lehren des Konfuzianismus sollten nach wie vor das unverbrüchliche Heiligtum der Seele bleiben. Hier sollte kein Geist der Kritik, kein Utilitarismus und Positivismus Eingang finden. Aber in einer Welt der Hässlichkeit, da die Gemeinheit mit Macht verbunden war, sei es nötig, dass man die Methoden, die Macht verliehen, sich aneigne, um staatlich seinen Platz auf Erden zu wahren. Im Zentrum konfuzianisch und moralisch, im Äußeren europäisch und mächtig, das war die Auskunft, die der greise Gelehrte in seiner Verlegenheit fand.

      Von anderer Seite kam eine andere Gegenwirkung. Der junge Monarch hatte sich von der Last der auf ihn drückenden Tante befreien wollen. Er hatte Yüan Schi K’ai dazu ausersehen, im Schutz tiefsten Geheimnisses, die Kaiserin-Witwe und ihren Anhang beiseite zu bringen. Er hatte nicht in Rechnung gezogen, dass Yüan Schï K’ai zu dem Vertrauten der Kaiserin-Witwe, Yung Lu, im Verhältnis der Wahlverwandtschaft stand. So verriet denn Yüan Schï K’ai den ganzen Anschlag. Die alte Kaiserin wurde rasend. Die Reformer mussten schleunigst die Hauptstadt verlassen, und wer nicht floh, war des Todes. – Die Reformära war außenpolitisch nicht glücklich gewesen. Stück für Stück, von Kiautschou bis Kuangtschouwan, von Port Arthur bis Kowloong war eine ganze Anzahl der wichtigsten Hafenplätze von China losgerissen worden und noch war kein Ende abzusehen. So war es denn kein Wunder, dass die Kaiserin-Witwe die volle Sympathie der einheimischen Bevölkerung für sich hatte, als sie mit starker Hand das Rad wieder rückwärts wandte. Das war die Stimmung gewesen, aus der der Boxeraufstand hervorwuchs.

      Wie schon erwähnt, begann mit dem Zusammenbruch dieses letzten Versuches der Reaktion eine neue Periode der Reformen, oder genauer gesagt, eine neue Etappe der schon gekennzeichneten zweiten Periode. Denn es waren keine neuen Gedanken grundlegender Art, die aufgekommen wären. Das einzige Prinzip war, dass ein langsames Tempo der Reformen eingeschlagen werden sollte. Es wurden Termine festgesetzt, innerhalb derer die einzelnen Reformen vorgenommen werden sollten, so dass dann nach einer Reihe von Jahren aus dem antiken chinesischen Staat eine moderne konstitutionelle Monarchie geworden wäre.

      In Wirklichkeit hat ja die Bewegung einen wesentlich anderen Ausgang genommen. Um den Verlauf der Dinge zu verstehen, müssen wir uns über das politische Kräfteverhältnis in China klar werden. Seit langer Zeit schon gruppierte sich die chinesische Politik um drei Zentren. Einmal ist von Bedeutung der Norden. Dort liegt Peking am Rand der großen, fruchtbaren, hauptsächlich weizentragenden Ebene, die das Flussgebiet des Gelben Flusses ist. Hier ist der Sitz der ältesten chinesischen Kultur. Ein nüchterner, strenger, starker Geist herrscht hier. Der Konfuzianismus in seiner ernsten Einfachheit gibt dem Ganzen das Gepräge. Dieses Zentrum gewann naturgemäß an Einfluss, seit die Mandschus China beherrschten, da sie ja auch aus dem Norden stammten und in gewissen Zügen eine Verwandtschaft mit diesem Charakter zeigten. Als mächtigster Mann im Norden stand in dieser Zeit Yüan Schï K’ai da. Er hatte in entscheidender Stunde die Kaiserin-Witwe gerettet. Während der Boxerzeit war er allerdings in Schantung neutral geblieben. Aber diese Haltung hatte sich durch die Verhältnisse später gerechtfertigt. So war es denn nur natürlich, dass er in der neuen Ära an Einfluss gewann, wenn auch die Kaiserin-Witwe ihm vielleicht doch nicht ganz traute, worauf manches in den späteren Jahren hinweist. Seine Politik war nach einfachen Gesichtspunkten gestaltet. Für ihn kam in erster Linie die Konzentration einer entsprechenden Macht in Frage. So waren seine Reformen denn hauptsächlich darauf gerichtet, ein gut geschultes, diszipliniertes Heer zur Verfügung zu haben. Um die Mittel hierfür zu schaffen war er bestrebt, Handelsunternehmungen und industrielle Anlagen, Bergbau, Hüttenwesen usw. zu fördern. Man kann wohl sagen, dass er in Nordchina in dieser Hinsicht entschieden Bedeutendes geleistet hat.

      Was das Gebiet der Kultur und Erziehung anlangt, so geschah unter ihm, was vorgesehen war in dem allgemeinen Reformplan, ohne dass er ein besonderes Interesse für diese Dinge an den Tag gelegt hätte. Wodurch Yüan Schï K’ai mächtig war, das waren die Beziehungen, die er überallhin anzuknüpfen wusste. Er hatte durch seine zahlreichen Nachkommen Familienbeziehungen zu fast allen bedeutenden und mächtigen Familien. Auch sonst ging das System seiner Freundschaften sehr weit. Und zwar war es immer das persönliche Interesse, durch das er die Leute an sich zu fesseln verstand. Durch diese gut auserwählte Anhängerschaft war es ihm denn auch stets möglich, seine Ansichten von anderen aussprechen zu lassen und scheinbar widerwillig sich zu dem nötigen zu lassen, was er von Anfang an bezweckte.

      Ein