Die Seele Chinas. Richard Wilhelm

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Название Die Seele Chinas
Автор произведения Richard Wilhelm
Жанр Языкознание
Серия Kleine historische Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783843800495



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Sie gelten für einen ganz besonderen Menschenschlag. Man hält sie für arbeitsscheu, frech, renitent und betrügerisch und glaubt mit Püffen und Schlägen ihnen gegenüber anzukommen. Diese Weisheit wird jedem Ankömmling von den erfahrenen Kennern rechtzeitig beigebracht. Dies war der Grund, dass in Kanton und Schanghai Europäer und Chinesen Jahrzehnte nebeneinander wohnen konnten, ohne sich zu verstehen, nur aus der Sucht nach Gewinn getrieben und einander gegenseitig verachtend. Was ich nun entdeckte, war nichts weiter, als dass es gar keine Kulis gab: das waren alles Menschen, Menschen mit ihren Freuden und Leiden, Menschen, die den Kampf des Lebens zu kämpfen hatten, die sich durchschlagen mussten mit List und Dulden auf geraden oder krummen Wegen. Sie hatten bestimmte Lebensformen angenommen im Anschluss an die europäische Behandlungsweise, waren kalt und starr geworden, wichen aus, wo sie auf Gewalt stießen; den Zornausbrüchen der Bedrücker setzten sie ein stumpfes Lachen entgegen; im übrigen behielten sie ihre Gefühle bei sich. Nun aber merkte ich, dass es Väter, Brüder und Söhne waren, die an ihren Verwandten hingen, die oft unter großer Selbstverleugnung Geld verdienten und ersparten, um ihre alten Eltern zu ernähren, und das alles mit Fröhlichkeit und Harmlosigkeit, wenn sie unter sich waren, und mit viel Geduld und Tragsamkeit ihren Feinden gegenüber. Diese Entdeckung öffnete mir den Weg zu den Herzen des chinesischen Volkes. Denn kein Volk ist freundlicher, treuer und liebevoller, wenn man ihm auf menschlichem Boden gegenübertritt, ohne etwas für sich zu wollen, weder Geld noch Arbeitsausbeutung oder, was noch peinlicher empfunden wird, dass sie sich bekehren sollen und irgendeiner fremden Institution beitreten zum Zweck der ewigen Seligkeit.

      Es war freilich nicht ganz leicht, diese Erkenntnis Europäern gegenüber zu vertreten; denn damals herrschten noch andere Anschauungsweisen. Lange Zeit traf ich nur auf heftige Gereiztheit, wenn ich meinen Standpunkt zu vertreten suchte. Man war überzeugt von der höheren Kultur Europas, die es zu wahren galt gegen die gelbe Gefahr, ohne zu bemerken, dass man sich im Gegenteil selbst in der Offensive befand und alles tat, um die große Kultur Ostasiens so gründlich wie möglich im Keim zu vergiften; denn auch Kulturen können vergiftet werden durch für sie tödliche Verhältnisse und Suggestionen.

      Selbst unter den Missionaren, die doch am ehesten die Interessen der Eingeborenen zu vertreten pflegen, fand ich nicht immer Verständnis; denn auch sie trennten zwischen den menschgewordenen Kulis, die in die Kirche eingetreten waren, und der Masse der armen Heiden, die im Schmutz der Sünde dem ewigen Verderben entgegenreisten. Wiewohl es gar keine Heiden an sich gibt; denn ein Heide ist nur etwas, wofür man einen anders gearteten Menschen hält, damit man ihn entweder bekehren oder zur Hölle verdammen kann.

      Zur Ehre der deutschen Sinnesart muss es übrigens gesagt werden, dass, obwohl wir in Tsingtau mit denselben Grundsätzen begannen wie die übrigen Völker Europas in ihren Kolonien, doch ganz von selbst sich eine Art von Verständnis und Interesse gegenüber der chinesischen Bevölkerung entwickelte. Man bekam ein gewisses Wohlwollen füreinander, und die gegenseitigen Beziehungen wurden entgiftet. Das kommt zum Teil auch daher, dass doch auch viele Beamte und Kaufleute Chinesisch lernten, was außer den Missionaren die Fremden sonst nicht in dem Umfang zu tun pflegten. Wenn man aber mit jemand erst in seiner Muttersprache reden kann, so klären sich viele der völkertrennenden Missverständnisse ganz von selber auf.

      Zweites Kapitel

      Geburtswehen einer neuen Zeit

      Im Innern von Schantung steht der heilige Berg Taischan. Er ist in der chinesischen Geschichte immer wieder hervorgetreten als der Geheimnisvoll-Offenbare, von dem Leben und Tod ihren Ursprung nehmen. In seiner Nähe ist ein kleiner Hügel, Zypressen wachsen auf ihm und eine Pagode steht auf seiner Höhe. Hier war der Ort, wo alte Herrscher dem Geist des heiligen Berges ihre Opfer darbrachten. Ein kleiner Tempel ist hier geheimnisvollen Göttern geweiht. In diesem Tempel nahm die Bewegung ihren Anfang, die um die Jahrhundertwende China bis in seine Grundfesten erschüttern sollte und die der Anfang war zu einer neuen Zeit, die freilich ganz anders wurde, als die Menschen, die damals in dem Tempel dunkler Geister ihre Zusammenkünfte hatten, planten.

      Was war der Grund zu ihrem geheimen Treiben? In China hat es zu allen Zeiten, wenn die Verhältnisse unerträglich wurden, wenn die Regierungsmaschine versagte, wenn Missernte und teure Zeit durchs Land schlich, wenn Pest und Überschwemmung das Leben bedrohten, wenn Räuber das Land unsicher machten, geheime Gesellschaften gegeben, die mit der Götter Hilfe das Alte vernichten und eine neue Ordnung ans Licht bringen wollten. So fängt das Buch von der Geschichte der drei Reiche, das der klassische Roman für alle Arten von ritterlichen Kämpfen in China ist, mit dem Aufstand der gelben Turbane an, deren Führer auf geheime Weise in den Besitz von Zauberkräften gekommen war, so dass er Sturm und Regen machen konnte und Zauberwasser aussprengte, das die Menschen von der Pest heilte. Auch das Zaubermittel, aus Papier Soldaten und Pferde zu schneiden, die dann künstliches Leben bekommen, wird häufig bei solchen Gelegenheiten erwähnt. Natürlich gibt es auch alle Arten von Waffensegen, die gegen Stich, Hieb und Schuss unverwundbar machen und dergleichen Zauber mehr.

      Um die Jahrhundertwende waren in China die Zustände wieder reif für solche Umtriebe. Der Taipingaufstand war vor einem halben Jahrhundert zusammengebrochen, aber die Verhältnisse waren nicht besser geworden. Immer mehr hatten sich die Fremden im Land ausgebreitet. Sie waren mit Gewalt und Unrecht eingedrungen. Sie hatten den märchenhaft schönen Sommerpalast Yüan Ming Yüan bei Peking niedergebrannt um ihre überlegene Kultur zu beweisen. Sie hatten fremde Lehren verbreitet, denen sich Verbrecher und allerlei Gesindel angeschlossen hatten. Wenn es zu Streitigkeiten gekommen war, waren Kanonenboote erschienen und hatten Brandschatzungen eingetrieben, und immer mehr wurde das Volk von den Fremden und ihren Anhängern bedrückt. War nicht erst vor kurzem die Kiautschoubucht weggenommen worden, angeblich, weil einige Missionare von Räubern ermordet worden waren? Und hatten nicht darauf die anderen europäischen Mächte, statt den Raub zu verhindern, dieses Beispiel nachgeahmt? Wurde nicht immer wieder davon gesprochen, dass man China aufteilen wollte wie eine Melone? Und dies alles vermochte die mandschurische Dynastie nicht zu verhindern. Ja, der Kaiser selbst war in den Händen der Reformer, die China zu einem Staat nach fremdem Muster machen wollten. Darum hinweg mit den fremden Herrschern! Nieder mit dem Mandschus, Schutz den Chinesen!

      Nicht lange hatte die Bewegung diese Spitze. Die alte Kaiserin-Witwe hatte ihrem Neffen die Zügel der Regierung wieder aus der Hand genommen, und reaktionärer, fremdenfeindlicher Geist machte sich bei Hofe geltend. So änderte sich denn die Devise: »Nieder mit den Fremden, Schutz dem Kaiserhaus!«

      Es gab auf dem Lande allenthalben Selbstschutzvereinigungen gegen das Räuberwesen, das Wege und Stege unsicher machte. Diese Selbstschutzverbände nannten sich I Ho T’uan (Vereinigungen zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Es heißt, dass kurz nachdem in Deutschland das Wort von der gepanzerten Faust gefallen war, dieser Titel umgewandelt wurde in I Ho K’üan (Faust zum Schutz der öffentlichen Ruhe). Das wurde dann fälschlich mit dem Wort Boxer übersetzt, obwohl von Boxen bei der ganzen Sache nicht die Rede war.

      Abergläubische Stimmungen bemächtigten sich der Bewegung und peitschten sie zu offenem Fanatismus auf. In Tempeln und an geheimen Orten kam man nächtlicherweile zusammen unter dem Zeichen des geheimnisvollen Gottes alles Zaubers, Tschen Wu. Dieser Gott, der am Nordpol thront mit aufgelöstem, langem Haar und einem Zauberschwert, beherrscht die Dämonen und Geister, die als Schlangen und Schildkröten zu seinen Füßen liegen. Außer ihm kamen auch die Begleiter des Schützergottes Kuanti mit ihrer Wehr und Waffen herbei. Medien redeten im Namen der Götter. Die jungen Männer wurden unter geheimnisvollen Zaubersprüchen eingeweiht. Sie verloren das Bewusstsein und fielen zur Erde wie tot, dann standen sie wieder auf, von wildem Mut beseelt, und nun waren sie die Glieder der Vereinigung vom großen Messer, die unverwundbar waren für Kugel und Schwert. Wie eine Epidemie breitete sich diese Massenpsychose aus. Allenthalben in Stadt und Dorf wurden die Versammlungen abgehalten, und die Geister tobten. Da die Spitze der Bewegung umgebogen war und gegen die Fremden ging, nicht mehr gegen den Thron, so ließ man von Seiten der Regierung der Sache ihren Lauf. Man scheute sich ins Feuer zu greifen.

      In Schantung wuchs die Bewegung zuerst ins Große. Man machte sich allmählich feste Ziele. Noch waren die Zeiten in Erinnerung, da China frei war von der Bedrückung der Fremden. China, das große Reich der Mitte, sollte nun Schmach dulden von den fernen