Название | Gesammelte Werke von Stefan Zweig |
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Автор произведения | Стефан Цвейг |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027209583 |
Denn spät erst wie seine Romane unternimmt Stendhal den geistigen Aufbau seiner Jugend in bewußtem, autobiographischem Werke. Auf den Stufen von San Pietro in Montorio in Rom sitzt ein alternder Mann und sinnt über sein Leben nach. Ein paar Monate noch und er wird fünfzig Jahre sein: vorbei, endgültig vorbei die Jugend, die Frauen, die Liebe. Nun wäre es wohl an der Zeit, zu fragen: »Wer war ich? Wer bin ich gewesen?« Vorbei die Zeit, da das Herz sich durchforschte, um bereiter, schlagkräftiger zu werden für Aufschwung und Abenteuer: nun verlangt die Stunde schon, ein Fazit zu ziehen, zurückzuschauen. Und abends, kaum daß Stendhal von der Abendgesellschaft beim Gesandten gelangweilt zurückkehrt (gelangweilt, denn man erobert keine Frauen mehr und ist müde geworden alles lockern Konversierens), beschließt er plötzlich: »Ich muß mein Leben aufschreiben! Und wenn das getan ist, in zwei oder drei Jahren, werde ich vielleicht endlich wissen, wie ich gewesen: heiter oder melancholisch, geistreich oder ein Dummkopf, mutig oder feig, und vor allem ein Glücklicher oder ein Unglücklicher.«
Ein leichter Vorsatz, eine gewaltige Aufgabe! Denn Stendhal hat sich vorgenommen, in diesem »Henri Brulard« (den er in Chiffren niederschreibt, um sich allfälligen Neugierigen unkenntlich zu machen) »simplement vrai«, »einfach wahr« zu sein; aber wie schwer ist, er weiß es, das Wahrsein, dies Wahrbleiben wider sich selbst! Wie sich zurechtfinden in dem schattenhaften Labyrinth der Vergangenheit, wie unterscheiden zwischen Irrlicht und Licht, wie den Lügen entkommen, die verlarvt hinter jeder Windung des Weges zudringlich warten! Stendhal, der Psychologe, erfindet da – erstmalig und vielleicht als einziger eine geniale Methode, von der Falschmünzerei der allzu gefälligen Erinnerung sich nicht prellen zu lassen, nämlich mit fliegender Feder zu schreiben, nicht nachzulesen, nicht nachzudenken (»je prends pour principe, de ne pas me gêner et d’effacer jamais«). Die Scham, die Bedenken also einfach überrennen; überraschend aus sich hervorbrechen mit seinen Geständnissen, ehe der Selbstrichter, der Zensor innen aufwacht. Nicht malerisch arbeiten, sondern wie ein Momentphotograph! Immer die urtümliche Wallung in ihrer charakteristischen Bewegung festhalten, ehe sie eine künstliche theatralische Pose annimmt. Stendhal schreibt seine Selbsterinnerungen mit fliegender Feder, in einem Ruck, und tatsächlich, ohne jemals die Blätter wieder zu überlesen, um Stil, um Einheitlichkeit, um methodische Plastik so vollkommen unbekümmert, als wäre das Ganze nur ein Privatbrief an seinen Freund: »J’écris ceci sans mentir, j’espère sans me faire illusion, avec plaisir comme une lettre à un ami.« An diesem Satz ist jedes Wort wichtig: Stendhal schreibt seine Selbstdarstellung, »wie er hofft«, wahrhaft, »ohne sich Illusionen zu machen«, »mit Vergnügen«, und »wie einen Privatbrief«, und dies, »um nicht kunsthaft zu lügen wie Jean-Jacques Rousseau«. Bewußt opfert er die Schönheit seiner Memoiren der Aufrichtigkeit, die Kunst der Psychologie.
In der Tat, rein artistisch gesehen, bedeutet der »Henri Brulard«, ebenso wie seine Fortsetzung, die »Souvenirs d’un égotiste« eine dubiose Kunstleistung: dazu sind beide zu eilfertig, zu lässig, zu planlos hingespritzt. Was Stendhal an Erinnerungsfakten gerade in die Finger kommt, wirft er blitzschnell in das Buch hinein, gleichgültig, ob sie an jene Stelle hinpassen oder nicht. Genau wie in seinen Notizbüchern nachbart das Sublimste mit dem Seichtesten, abwegige Allgemeinheiten mit den intimsten Personalien. Aber gerade diese Ungezwungenheit, dies Sicherzählen in Hemdsärmeln verrät allerhand Aufrichtigkeiten, von denen jede einzelne seelendokumentarischer wirkt als sonst ein Folioband. Geständnisse jener entscheidenden Art wie das berüchtigte über seine gefährliche Neigung zur Mutter, den tierischen tödlichen Haß gegen den Vater, solche bei andern feig in die Winkel des Unterbewußtseins verkrochene Augenblicke wagen sich nicht heraus, sobald ein Zensor Zeit hat, sie zu überwachen: diese intimsten Dinge sind – man kann es nicht anders sagen – durchgepascht in der Sekunde absichtsvoll erzwungener moralischer Unachtsamkeit. Nur durch dieses geniale Psychologensystem, daß Stendhal seinen Empfindungen niemals Zeit läßt, sich auf »schön« oder »moralisch« zu frisieren, hat er sie wirklich gepackt, wo sie am kitzligsten sind, wo sie anderen, Plumperen, Langsameren aufschreiend wegspringen: nackt, vollkommen seelennackt und noch völlig schamlos stehen diese ertappten Sünden und Sonderlichkeiten plötzlich auf glattem Papier und starren zum erstenmal Menschenblicken in die Augen. Welch wunderbare, tragisch wilde Beängstigungen, welche dämonisch urmächtigen Zorngefühle brechen da aus einem winzigen Kinderherzen auf! Kann man die Szene vergessen, wie der kleine Henri, als die ihm verhaßte Tante Seraphie stirbt (»einer der beiden Teufel, die auf meine arme Kindheit losgelassen waren« – der andere war der Vater), wie das verbitterte, ureinsame Kind »in die Knie fällt und Gott dankt«. Und knapp daneben (bei Stendhal verschränken sich die Gefühle labyrinthisch vielfältig) jene kleine Bemerkung, daß selbst dieser Teufel einmal die erotische Frühreife des Kindes eine (genau beschriebene) Sekunde lang reizte. Kaum hat man jemals vor Stendhal gespürt, wie vielfach der Mensch geschichtet ist, wie das Konträrste und Widerspaltigste an den äußersten Nervenenden sich berührt, wie schon die unflügge Kinderseele das Gemeine und das Erhabenste, Brutalität und Zartheit in ganz dünnen Lagen, Blatt über Blatt zusammengefaltet enthält; und gerade mit diesen