Название | Gesammelte Werke von Stefan Zweig |
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Автор произведения | Стефан Цвейг |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027209583 |
Ein letzter Teil jener einzigartigen Substanz Stendhals bleibt also immer abseits, und dieses merkwürdige Element chemisch zu ergründen, bedeutet Stendhals einzig wirkliche und intensive Betätigung. Niemals hat er das Eigensüchtige, das Autoerotische solcher introvertierten Lebenseinstellung geleugnet, im Gegenteil, er rühmt sich seiner Selbstischkeit und tauft sie demonstrativ mit einem neuen herausfordernden Namen: Egotismus. Egotismus – kein Druckfehler dies und beileibe nicht zu verwechseln mit seinem plebejischen, derbfäustigen Bastardbruder, dem Egoismus. Denn Egoismus will grob alles an sich raffen, was andern gehört, er hat gierige Hände und die verzerrte Fratze des Neids. Er ist mißgünstig, ungroßmütig, unersättlich, und selbst die Beimischung geistiger Triebe vermag ihn nicht zu erlösen von seiner phantasielosen Gefühlsbrutalität. Stendhals Egotismus dagegen will niemandem etwas nehmen, er läßt mit einer aristokratischen Hochmütigkeit den Geldraffern ihr Geld, den Ehrgeizigen ihre Ämter, den Strebern ihre Orden und Fähnchen, den Literaten die Seifenblasen ihres Ruhms – mögen sie damit glücklich sein! Er lächelt ihnen von oben herab verächtlich zu, wie sie um Katzengold ihre Hälse recken und servil ihre Rücken biegen, sich mit Titeln behängen und mit Würden bespicken, wie sie sich zusammenplustern zu Gruppen und Grüppchen und vermeinen, die Welt zu regieren – habeant! habeant! lächelt er ironisch ihnen zu, ohne Neid, ohne Habgier: mögen sie sich die Taschen vollsacken und die Bäuche füllen! Stendhals Egotismus ist nur leidenschaftliche Defensive, er betritt niemandes Revier, aber läßt auch niemanden über die eigene Schwelle, er hat einzig den Ehrgeiz, innerhalb des Menschen Henri Beyle einen vollkommen isolierten Raum zu schaffen, eine Brutzelle, in der die tropisch seltene Pflanze der Individualität sich ungehemmt entfalten kann. Denn Stendhal will seine Ansichten, seine Neigungen, seine Entzückungen einzig nur aus sich selber züchten und einzig für sich allein; ihm erscheint völlig gleichgültig und gewichtslos, wieviel ein Buch, ein Geschehnis allen andern gilt; er ignoriert hochmütig, wie sich ein Faktum auswirkt ins Zeitgenössische, Welthistorische oder gar in die Ewigkeit: schön nennt er ausschließlich, was ihm gefällt, richtig, was er augenblicklich als zugemessen erachtet, verächtlich, was er verachtet; und ihn beunruhigt keineswegs, mit dieser seiner Meinung vollkommen vereinzelt zu stehen, im Gegenteil, Einsamkeit beglückt und bestärkt sein Selbstgefühl: »Que m’importent les autres!« Die Devise Juliens gilt auch in aestheticis für den echten und gelernten Egoisten.
»Aber«, unterbricht hier vielleicht ein unbedachter Einwand – »wozu ein so pompöses Wort Egotismus für diese Selbstverständlichkeit aller Selbstverständlichkeiten? Das ist doch das Allernatürlichste, daß man schön nennt, was man für schön befindet, und sein Leben einzig nach seinem persönlichen Gutdünken zurechtmacht!« Gewiß, so möchte man meinen, aber genau gesehen, wem gelingt es, restlos unabhängig zu fühlen, unabhängig zu denken? Und wer selbst von jenen, die ihre Meinung über ein Buch, ein Bild, ein Ereignis aus scheinbar eigener Wertung formen, hat dann noch den Mut, sie konsequent zu wagen gegen eine ganze Zeit, gegen eine ganze Welt? Wir sind alle in höherem Maße unbewußt beeindruckt, als wir uns zugestehen: die Luft der Zeit steckt in unseren Lungen, in der Herzkammer selbst, unsere Urteile und Ansichten reiben sich an unzählig viel gleichzeitigen und schleifen an ihnen unmerklich ihre Spitzen und Schärfen ab, durch die Atmosphäre schwingen unsichtbar wie Radiowellen die Suggestionen der Massenmeinung. Der natürliche Reflex des Menschen ist also keineswegs die Selbstbehauptung, sondern die Anpassung der eigenen an die Zeitmeinung, Kapitulation an das Majoritätsgefühl. Wäre die Mehrheit, die überwältigende, der Menschheit nicht pflaumenweich anpasserisch, verzichteten ihre Millionen nicht aus Instinkt oder Trägheit auf private, persönliche Anschauung, längst stände die gigantische Maschinerie still. So bedarf es jedesmal ganz besonderer Energien, eines empörerisch emporgestrafften Mutes – und wie wenige kennen ihn! –, um diesem geistigen Druck von Millionen Atmosphären seinen isolierten Willen entgegenzustemmen. Ganz seltene und wohlgeprobte Kräfte müssen schon in einem Individuum zusammenwirken, damit es sich seiner Eigenheit erwehre: eine sichere Weltkenntnis, eine rapide Scharfsichtigkeit des Geistes, eine souveräne Verachtung aller Rudel und Rotten, eine kühne und amoralische Unbedenklichkeit und vor allem Mut, dreimal Mut, eine unerschütterliche, fest im Sattel sitzende Courage zur eigenen Überzeugung.
Diesen Mut hat Stendhal gehabt, der Egotist aller Egotisten: es tut der Seele wohl, zu sehen, wie kühn er vorprellt gegen seine Zeit, einer gegen alle, wie er mit flirrenden Finten und brüsken Attacken ohne andern Panzer als seinen blitzenden Hochmut sich durch ein halbes Jahrhundert schlägt, oft verletzt, aus vielen heimlichen Wunden blutend, aber aufrecht bis zum letzten Augenblick, und ohne ein Zollbreit Eigenheit und Eigenwilligkeit preiszugeben. Opposition ist sein Element, Selbständigkeit seine Wollust. Man lese nur an hundert Beispielen